Samstag
Die letzten Nachmittagssonnenstrahlen am lebendigen Platz der Republik
Auf einer Bank
Nah bei Ibrahim, den wir überraschend wiedertreffen
… und das Leben geht weiter
es geht einfach immer weiter …
*
Guten Morgen Fenster …
Guten Morgen Baum …
Guten Morgen Lüftung …
Zu wenig Schlaf in meinem kleinen, so behaglichen Vogelnest in der erstaunlich stillen Stadt
In mir sangen die Wörter und die Bilder heute Nacht
Ein stetiger Fluss
Liess ihn geschehen
Hätte vielleicht doch schreiben sollen
Blieb im Rausch der Nacht am Fenster
liegen
*Abschiedszeit *
Nichts bleibt
Da ist es wieder …
Morgen sieben Uhr landen wir in Frankfurt
*
Bevor wir hierher gingen
sah ich so einige Reportagen über Armenien
Seine Geschichte
Seine Politik
Über seine Grenzen
Seine Nachbarn
Über die Kriege
Den Völkermord und die Türkei
Über Bergkarabach und Aserbaidschan
Über die Berge, den Sevan See, die alten Klöster und die Kreuzsteine
Über die Menschen, ihre Leben, ihre Familien und über das Essen, Armeniens Früchte und die enorme Gastfreundschaft
… und hörte seinen Klang
.
Ich wollte verstehen
.
Wollte die Lebensgeschichte dieses Landes verstehen, dieses ersten christlichen Landes der Welt
.
Ich mag Lebensgeschichten
.
von Menschen
von Völkern
und von Ländern
Auch wenn ich sie mir meist nicht (mehr) merke …
Schaue eher auf die Tiefen
Schaue eher auf die Höhen
Schaue auf die Widersprüche, die Brüche
Schaue auf die Kultur
Höre den Klang des Erzählens
Wer was wann mit wem und wozu und weshalb und wo und wie – das merke ich mir nur noch selten oder eher punktuell
Doch was sich formt ist ein Gespür, ist ein Verstehen des Jetzt jenseits von Wissen und Fakten
Für mich immer wieder erstaunlich ist, wie die Erfahrungen die ein Land, ein Volk, macht, Eigenschaften und einen Charakter formen und Verhaltens- und Reaktionsweisen nach sich ziehen
Mein (vielleicht, aber nur vielleicht, viel zu naiver) Blick auf die Welt mit ihren Ländern und Völkern ist der einer großen “LebensSchule” (besser weiß ich es noch nicht) in der es all die verschiedenen Menschenländer und MenschenVölker gibt mit ihren tendenziellen Eigenschaften und sich formenden Charakteren
Es gibt die Machtvollen
Die Streber
(Erstaunlich, dass mir das als erstes einfällt beim aufschreiben)
Es gibt die Cliquen
Die Grüppchen
Die Bezogenen
Die Einsiedler
Es gibt die Unterdrückten
Die Ausgegrenzten
Die Hilfsbereiten
Die Stillen
Die Wehrhaften
und die Sanftmütigen
Es gibt die Hochmütigen und die Arroganten
Die Lustigen
Die Leichtfüßigen
Die Vertrauensvollen
Die, die immer lachen und tanzen
Die Traurigen
Die Wütenden
Die Gewaltbereiten
Und es gibt die Einfachen
Die Klugscheisser und die Besserwisser
Die oft Übersehenen und die ganz Vergessenen
Es gibt die Älteren
Die Mittelalten
Die Jungen
Die Großen und die Kleinen
Und es gibt die Hochintelligenten
Die, denen alles schwer fällt
Es gibt die Mitfühlenden
Die, die alles haben
Und die mit nur sehr wenig
Es gibt die Arschlöcher
Die, die sich gerne prügeln und Krieg machen
Und die, die immer Mitmachen
Die Hetzer
Die Verräter
Die Einenden
Die Diplomaten
Die Liebenden
Und es gibt die Religionen, die all das erheben umarmen rechtfertigen erklären weisen gründen
Und noch viel mehr …
Es gibt die “Gandhis” genauso wie die Diktatoren
Gleichzeitig
Und alles hat seinen Grund
Alles hat seine Geschichte
Alles hat seine folgemögliche Berechtigung
Alles hat seine enorme Komplexität
Mit aller zum Teil zutiefst schmerzenden Wirklichkeitswidersprüchlichkeit
.
Alles das ist Leben
.
Und alles was es gibt in der Welt, gibt es auch,
wenn wir ganz ganz ganz ganz ehrlich sind,
in uns
Alles was es gibt in der Welt, gibt es auch,
wenn ich ganz ganz ganz ganz ehrlich bin,
gibt es auch in mir
Und unter, hinter, zwischen all dem was sich uns auferlegt hat an trennender Geschichte und was macht, dass wir all das in uns tragen
gibt es das eine
Das Einende:
unser gemeinsames Menschsein
und unsere angeborene, ja natürliche Fähigkeit zu sehen und zu hören und zu geben und zu verstehen und zu helfen
Und verstehen,
verstehen wollen und verstehen können
Sehen wollen und sehen können
Hören wollen und hören können
Mitfühlen wollen und mitfühlen können
helfen wollen und helfen können
ist lieben
Und Armenien,
Armenien hat(te) es schwer unter uns …
*
Heute waren wir nun im Genozidmuseum
*
Die letzte Nachmittagssonne am lebendigen Platz der Republik
Auf einer Bank
Nah bei Ibrahim, den wir überraschend wieder treffen beim langen Laufen danach
… und das Leben geht weiter
es geht einfach immer weiter …
*