30. November

 

 

Samstag

 

Die letzten Nachmittagssonnenstrahlen am lebendigen Platz der Republik 

Auf einer Bank 

Nah bei Ibrahim, den wir überraschend wiedertreffen 

 

 

… und das Leben geht weiter

es geht einfach immer weiter … 

 

*

 

Guten Morgen Fenster …

Guten Morgen Baum …

Guten Morgen Lüftung … 

Zu wenig Schlaf in meinem kleinen, so behaglichen Vogelnest in der erstaunlich stillen Stadt 

In mir sangen die Wörter und die Bilder heute Nacht 

Ein stetiger Fluss 

Liess ihn geschehen 

Hätte vielleicht doch schreiben sollen 

Blieb im Rausch der Nacht am Fenster 

liegen 

 

*Abschiedszeit *

 

Nichts bleibt

Da ist es wieder …

 

Morgen sieben Uhr landen wir in Frankfurt

 

*

 

Bevor wir hierher gingen 

sah ich so einige Reportagen über Armenien 

Seine Geschichte 

Seine Politik 

Über seine Grenzen 

Seine Nachbarn 

Über die Kriege 

Den Völkermord und die Türkei 

Über Bergkarabach und Aserbaidschan 

Über die Berge, den Sevan See, die alten Klöster und die Kreuzsteine 

Über die Menschen, ihre Leben, ihre Familien und über das Essen, Armeniens Früchte und die enorme Gastfreundschaft 

… und hörte seinen Klang 

.

Ich wollte verstehen 

.

Wollte die Lebensgeschichte dieses Landes verstehen, dieses ersten christlichen Landes der Welt 

.

Ich mag Lebensgeschichten 

.

von Menschen

von Völkern 

und von Ländern 

 

Auch wenn ich sie mir meist nicht (mehr) merke … 

 

Schaue eher auf die Tiefen

Schaue eher auf die Höhen 

Schaue auf die Widersprüche, die Brüche 

Schaue auf die Kultur 

Höre den Klang des Erzählens 

 

Wer was wann mit wem und wozu und weshalb und wo und wie – das merke ich mir nur noch selten oder eher punktuell 

Doch was sich formt ist ein Gespür, ist ein Verstehen des Jetzt jenseits von Wissen und Fakten 

Für mich immer wieder erstaunlich ist, wie die Erfahrungen die ein Land, ein Volk, macht, Eigenschaften und einen Charakter formen und Verhaltens- und Reaktionsweisen nach sich ziehen 

Mein (vielleicht, aber nur vielleicht, viel zu naiver) Blick auf die Welt mit ihren Ländern und Völkern ist der einer großen “LebensSchule” (besser weiß ich es noch nicht) in der es all die verschiedenen Menschenländer und MenschenVölker gibt mit ihren tendenziellen Eigenschaften und sich formenden Charakteren 

 

Es gibt die Machtvollen 

Die Streber 

(Erstaunlich, dass mir das als erstes einfällt beim aufschreiben) 

Es gibt die Cliquen 

Die Grüppchen 

Die Bezogenen 

Die Einsiedler 

Es gibt die Unterdrückten 

Die Ausgegrenzten 

Die Hilfsbereiten 

Die Stillen 

Die Wehrhaften 

und die Sanftmütigen 

Es gibt die Hochmütigen und die Arroganten 

Die Lustigen 

Die Leichtfüßigen 

Die Vertrauensvollen 

Die, die immer lachen und tanzen 

Die Traurigen 

Die Wütenden 

Die Gewaltbereiten 

Und es gibt die Einfachen 

Die Klugscheisser und die Besserwisser 

Die oft Übersehenen und die ganz Vergessenen 

Es gibt die Älteren 

Die Mittelalten 

Die Jungen 

Die Großen und die Kleinen 

Und es gibt die Hochintelligenten 

Die, denen alles schwer fällt 

Es gibt die Mitfühlenden 

Die, die alles haben 

Und die mit nur sehr wenig 

Es gibt die Arschlöcher 

Die, die sich gerne prügeln und Krieg machen 

Und die, die immer Mitmachen 

Die Hetzer 

Die Verräter 

Die Einenden 

Die Diplomaten 

Die Liebenden 

 

Und es gibt die Religionen, die all das erheben umarmen rechtfertigen erklären weisen gründen

Und noch viel mehr …

Es gibt die “Gandhis” genauso wie die Diktatoren

 

Gleichzeitig 

 

Und alles hat seinen Grund 

Alles hat seine Geschichte 

Alles hat seine folgemögliche Berechtigung 

Alles hat seine enorme Komplexität 

Mit aller zum Teil zutiefst schmerzenden Wirklichkeitswidersprüchlichkeit 

 

.

Alles das ist Leben 

.

 

Und alles was es gibt in der Welt, gibt es auch,

wenn wir ganz ganz ganz ganz ehrlich sind,

in uns 

 

Alles was es gibt in der Welt, gibt es auch,

wenn ich ganz ganz ganz ganz ehrlich bin,

gibt es auch in mir

 

 

Und unter, hinter, zwischen all dem was sich uns auferlegt hat an trennender Geschichte und was macht, dass wir all das in uns tragen 

gibt es das eine 

Das Einende:

 

unser gemeinsames Menschsein

und unsere angeborene, ja natürliche Fähigkeit zu sehen und zu hören und zu geben und zu verstehen und zu helfen 

 

 

Und verstehen, 

verstehen wollen und verstehen können 

Sehen wollen und sehen können 

Hören wollen und hören können 

Mitfühlen wollen und mitfühlen können 

helfen wollen und helfen können

ist lieben 

 

 

 

Und Armenien, 

Armenien hat(te) es schwer unter uns …

 

 

 

 

 

 

 

 

*

 

Heute waren wir nun im Genozidmuseum 

 

*

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die letzte Nachmittagssonne am lebendigen Platz der Republik 

Auf einer Bank 

Nah bei Ibrahim, den wir überraschend wieder treffen beim langen Laufen danach 

 

 

… und das Leben geht weiter

es geht einfach immer weiter … 

 

 

*

 

weiter…