Von der Verwirrung. Und von der Wut. Vom Leben. Und vom neu geboren werden.

 

Ein paar Worte zuvor

 

Schreiben bringt mir Klarheit.

Setzt einen Punkt hinter Erfahrenes. 

 

Vieles von dem was ich schreibe bleibt bei mir. Ist nur für mich. Niemand anderen.

Früher habe ich sehr viel für mich geschrieben.

Um mich besser zu verstehen. Und – ehrlicherweise – um das Leben festzuhalten und zu besitzen mit meinen Worten.

Jetzt ist es deutlich weniger geworden – die Essenz der Erfahrung jedoch viel  klarer. Lebensbestimmend. Einschneidend. Tief verändernd.

Manchmal ist es nur ein Satz. Manchmal sogar nur ein Wort. Tragend. Mich neu formend. Ausrichtend.

Vor einigen Wochen, im Dezember, habe ich nach einer langen, intensiv geschwiegenen, intensiv gefühlten und meine Gedanken intensiv erforschenden Zeit geschrieben.

 

e i n e   G e b u r t 

 

Seitdem frage ich mich, ob ich meine Worte veröffentlichen soll, kann, darf?

Nutzt es jemanden, meine Worte zu lesen, inspiriert es, hilft es weiter, oder sät es Wut, Verachtung, Unruhe, Hass?

Das würde ich nicht wollen.

 

Bitten

Um mich herum gibt es einen Kreis von Frauen, die da sind für mich. Manch eine schon viele, viele Jahre, manch eine gerade erst neu aufgenommen in den Kreis der Vertrauten. Jede ganz anders. Jede auf ihre Weise im Leben stehend. Jede in ihrem ganz eigenen Ausdruck. Jede in volle Verantwortung für sich selbst mit all den Gefühlen, Gedanken, das eigene Handeln gehend. Alle unterschiedlichen Alters – weit gespannt.

Wenn man viel gibt, ist es essentiell, immer wieder selbst gehalten und genährt zu sein. Selbst gehalten und genährt zu werden. 

Wir Frauen untereinander können das besonders gut – wenn wir den Neid, die Eifersucht, das Vergleichen, die Gehässigkeit, die Konkurrenz hinter uns gelassen haben. Wenn wir uns trauen, wirklich nah zu sein. Wenn wir einander sehen und begleiten. Wenn wir einander Mut machen, uns zu zeigen. Und wenn wir einander um Hilfe bitten. 

Jeder einzelnen der Frauen um mich bin ich dankbar. Jeder einzelnen dieser Frauen fühle ich mich tief verbunden.

Mit einigen sind Worte das Band, mit einigen reicht oft schon ein Blick, der so viel mehr sagen kann als jedes Wort.

Diesen Frauen, meinem Frauenkreis, habe ich meine Worte geschickt mit der Frage, ob ich sie veröffentlichen sollte.

Zwei sagten nein, die anderen zehn sagten in aller Deutlichkeit ja. Stark berührt. Bewegt. Überwältigt.

Ja,

„Es darf gelesen werden, vielleicht muss es sogar gelesen werden.“

 

 

Von der Verwirrung. Und von der Wut. Vom Leben. Und vom neu geboren werden.

 

 

Seit dem 11.09.2018 durchlebe ich den Jahreskreis der vielen ersten Male

 

Den Jahreskreis der Erinnerungen und der Traurigkeit.

 

Ich weine gerade oft und ganz schnell und dann lache ich wieder und bin ganz still und dann ist da die Wut und das Lachen und das Weinen gleichzeitig aufeinander.

 

Puh, Ebbe und Flut …

 

Und alles ist gut so

 

L e b e n    eben

einfach mit fließen

 

… und atmen

 

 

Rosemarie, 17.12.1933 – 11.09.2018

 

 

Als ich meine Großmutter am 04.09. ein letztes Mal sehen konnte, sagte ich ihr, dass, wenn ihr Körper stirbt,  sie überall sein wird für mich, im Regen, in den Sonnenstrahlen, im Wind und sie ergänzte lächelnd, ja und im Rauschen werde ich auch sein.  Als ich am 11.09. die Nachricht von ihrem Tod per sms erhielt, war um mich herum ein starker Herbstwind und rauschte in den Bäumen.

 

Und heute in der Dämmerung des kürzesten Tages des Jahres, kurz vor der längsten und dunkelsten Nacht, regnet es, und windet es, und es rauscht so mächtig!

 

Nun endlich ist es an der Zeit, zu schreiben …

 

Für meine Großmutter, die ich gemeinsam mit Adriaan im August nach drei Wochen 24-Stunden für sie Dasein, wie losgerissen zurück lies, weil zwei nahe Angehörige unser RundUmDieUhrFürSieDasein-Wollen und DaSeinKönnen und gelebte Liebe, die keine Worte braucht, die nichts erwartet und nicht aufrechnet, nicht für möglich hielten und nicht aushalten konnten.

Für meine Großmutter, die dem Tod ein Schnippchen geschlagen hatte, deren Nieren nach 2,5 Wochen des Versagens in der Nacht nach ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus für die letzten Lebenstage im eigenen Bett wieder anfingen zu arbeiten, und die noch einmal zurück gekommen war aus dem Reich der Sterbenden. Ganz sie selbst und mit noch mehr feiner und direkter Würde liebend, als sie es eh schon tat. Voller stiller Willenskraft bereit, alles zu tun und zu lassen, um wieder zu stricken, zu malen, zu kochen, zu leben. Wenn es sein müsste, auch dauerhaft im Bett.

Für meine Großmutter, für die jedoch mit der Begründung „Wir wollen doch nicht ein zweites Wunder erwarten!“ eine Behandlung, die trotz eines sehr geschwächten Zustandes ein vielleicht Auf-die-Beine-kommen nicht von vornherein für unmöglich hält, vom begleitenden Hausarzt für nicht sinnvoll erachtet wurde.

Für meine Großmutter, die ertrug, dass dieser Arzt auf durch uns vorgebrachte, nicht unbedingt schulmedizinisch übliche Behandlungswege mit einer wegwischenden Handbewegung erwiderte: „Wir müssen hier ja nun wirklich nicht mit Goldstandards herangehen.  Wir tun gar nichts hier, wir warten einfach mal zwei, drei Wochen ab.“

Für meine Großmutter, die den Weg genau dieses Arztes, den sie nie mochte und dem sie nicht vertraute (aber wegen Ärztemangels annehmen musste) und den Weg, den zwei nahe Angehörige für sie in Absprache mit dem Arzt vorbestimmt hatten, mit einem wissensklar geäußertem „Ja, so machen wir es.“ mitging. Mit der später leise gesprochenen, jedoch nicht diskutierbaren Begründung, irgendwann sei das Maß des Erträglichen erreicht und dann müsse einer Nachgeben. Sie.

Für meine Großmutter, die all das hinnahm, wie sie schon vieles, über sie hinweg Bestimmtes in ihrem Leben hin – und angenommen hatte. Und auch gerade deshalb ein so besonderer Mensch war.

 

Für meine Großmutter, die uns  A L L E, jeden  E i n z e l n e n  ihrer großen Familie und ihrer Freunde, jeden Einzelnen mit seinem ganz eigenen Wesen und seiner Art zu sein, jeden Einzelnen der es gekonnt hätte und sie in Stille und Frieden Sein lassen und in Ruhe gehen lassen würde, in den letzten Tagen und Stunden an ihrem Sterbebett gewollt hätte.

Sie liebte  a l l e,  sie liebte  j e d e n  von uns.

… und musste wählen

 

Tür zu.

Schlüssel abgezogen.

ein von fremder Hand geschriebener Zettel:

„Besuche sind nicht erwünscht!!!!!!“

 

Für meine Großmutter, die uns aus Angst Anfang September nach zwei intensiven Stunden trotz großer Sehnsucht und jeden Moment auskostend wegschickte, aus Angst vor der Wucht der Wut, falls da jemand überraschend käme. Aus Angst den Jemand zu verlieren und dabei schon längst verloren hatte und es wusste.

Nichts und niemand kann uns trennen mein Kind … Auch der Tod nicht.

Für meine Großmutter, deren Sache nicht die lauten Worte waren, sondern die leisen: Nein nicht streiten, nicht kämpfen, wir müssen sie beschämen …

Für meine Großmutter, die mit Würde und Liebe die Rolle der Schuldigen übernommen hat, um den von uns Unfähigen verursachten Schaden zu beruhigen … und  j e d e n  weiter liebte

 

Für meine Großmutter, die, solang ich sie kannte, ein junges Mädchen war. In einem alternden Körper.

Für meine Großmutter

Engste Vertraute

Freundin

Weise Frau

 

Für meine Großmutter und für mich, gehe ich durch die Zeit des Rückzugs und der Dunkelheit, durch die langen Tage und Nächte, durch die Zeit der Tränen und der Traurigkeit, der Erschöpfung und der Angst, der Wut und der Bitterkeit.

 

 

 

… und sinke und sinke und sinke

 

 

 

atmend

 

 

 

… und verstehe in der beängstigenden Tiefe der Dunkelheit – auch wenn das Ego sich immer wieder wehrt – dass es nichts und niemandem etwas zu verzeihen gibt. Auch mir selbst nicht.

 

 

 

 

weil   Leben   i s t

 

 

 

 

 

 

In Dankbarkeit für meinen Mann, der all meine Bewegungen der letzten Monate mitgetragen hat und zu jeder Zeit da war mit mir und mich hielt.

In Dankbarkeit für all die Frauen, die in diesen langen Wochen da waren für mich und keine Angst hatten vor der Traurigkeit und der besonderen Stille, die diese wortlose Traurigkeit mit sich bringt. Da waren mit einem sehenden Blick, Worten, Briefen, gemeinsam verbrachter Zeit, geteilten Erinnerungen, Nachrichten, Schweigen, kleinen Geschenken, einer warmen herzlichen Umarmung, einem lecker gekochten Essen.

Und in Dankbarkeit für die Männer, die zu reden beginnen. Über eigene Verluste, Zeiten der Traurigkeit, die wissen, was es heißt zu verlieren, in Liebe los zu lassen und sich im Verlust nicht zu verstecken, sondern mitten im Leben zu sein mit all den Gefühlen und Erinnerungen, die einen durchziehen, um dann wieder ganz im Moment anzukommen.

 

 

 

 

Für all uns wundervollen Frauen, die wir auch wütend und verwirrt sein dürfen

und uns dabei mitten drin, ganz auf uns selbst zurückgeworfen, wieder neu für die Liebe und das Verstehen entscheiden

 

 

 

L e b e n     i s t