Der fehlende Schlüssel

 

Liebe Kati, 

als wir vor meiner Zeit bei dir telefonierten, wollte ich von dir wissen, wie das geht: ein offener Mensch sein. Ich fühle mich im Kontakt zu anderen Menschen oft so, als ob mir ein Schlüssel zu einer wirklich tiefen Begegnung und Nähe fehlt. Es geht mir nicht immer und mit jedem so. Aber ich schaue durchaus mit einer Mischung aus Bewunderung und Neid auf offene Menschen, die scheinbar schnell einen Draht zu anderen haben und ein Gefühl von Willkommen dem Anderen vermitteln können. 

Dann bin ich zu dir gereist nach Dresden in deine schöne, aber nicht zu perfekte Wohnung, wo ich mich gleich willkommen und wohl gefühlt habe angesichts der vielen gemütlichen Bänkchen, Kissen und Tee und liebevoll gekochten Kunstwerken auf Tellern. Das Sein und Reden mit dir fühlte sich sehr natürlich an. Ich frage mich insgeheim immer noch, wie du es machst, dass diese Gespräche und die Zeit so nachhaltig wirksam sind und sich doch so normal anfühlen. Behutsam und mit dem nötigen Maß an Ehrlichkeit haben wir uns einem Thema genähert, dass mich schon ein Leben lang begleitet: Zurückhaltung. Oft auch zu finden in mir als Anpassung oder neudeutsch „people pleasing“

Ich bin in der Vorwendezeit in der DDR geboren. Ich war ein unkompliziertes, braves Mädchen, hatte gute Noten in der Schule und eine rebellionsarme Pubertät. Ich habe viel Lob und Anerkennung von Lehrern und Erziehern bekommen für mein lieb und bescheiden sein. Dafür, dass ich Erwartungen erfüllt habe. Ich habe gelernt, dass ich mit Anpassung und Zurückhaltung Erfolg habe. Ich bin auch damit aufgewachsen, dass das, was man denkt, und das was man sagt, zwei völlig unterschiedliche Dinge sein können. 

Diese Prägung wirkt, auch wenn heute Mädchen wild und laut sein dürfen, auch nach mehr als 10 Jahren Vipassana-Praxis. 

Ich beobachte mich dabei, wie ich Dinge sage oder tue, nur um anderen zu gefallen, wie ich mich zurücknehme, um keine „Umstände“ zu machen. Wie ich mit interessierter Miene Monologen zuhöre, die mich eigentlich nicht interessieren. Wie ich mich VERhalte. 

Verhalten kostet Kraft. Zurückhalten kostet Kraft. Beides bringt Verspannung in den Körper und die Seele. Bei so viel Kraftaufwand sollten doch wenigstens die anderen von meinem VERhalten profitieren … dachte ich … und erwartete unbewusst große Dankbarkeit für meine Bemühungen, Anerkennung, so wie ich sie damals als liebes Mädchen bekam. 

Du hast mir geholfen, diesen Irrglauben zu begraben liebe Kati. Ich spüre noch den kurzen Stich als du zusammenfassend sagtest: „Da liegt die Verstrickung.“ Ich hatte oft gehört und auch kognitiv verstanden, dass es besser ist, klar und deutlich zu sagen, was man will, braucht, denkt und fühlt. Aber ich hatte es noch nicht genug durchfühlt, um es wirklich für mich umzusetzen. Das ganze VERhalten und die Anstrengung sind letzten Endes für niemanden hilfreich. Es ist mir peinlich und erfüllt mich auch mit Traurigkeit, dass ich für diese grundlegende Erkenntnis 39 Jahre benötigt habe. 

Was soll ich sagen? Verstrickungen sind hartnäckig. Die Zurückhaltung verschwindet nicht, nur weil ich jetzt auch mit den Zellen verstehe, dass sie niemandem etwas bringt. Doch sie weicht immer öfter einer Klarheit, einem „ich darf anderer Meinung sein und es sagen“. Ich habe lang an ihr festgehalten aus Angst zu viel, zu fordernd, zu anstrengend zu werden, wenn ich sie loslasse. Tatsächlich stellt sich heraus, dass ich mich mehr im wirklichen Kontakt mit Menschen fühle, wenn ich klarer sage, was ich denke und was ich will. Ich trage den Schlüssel zu anderen Menschen eigentlich die ganze Zeit in meiner Hosentasche. Ich muss ihn nur öfter rausholen und aufschließen. 

 

XY . Hessen . 39 Jahre