Feierabend

 

Feierabend

Hinter mir liegt wieder ein langer Tag am Schreibtisch mit Blick auf den PC.

Noch immer versuche ich mich daran zu gewöhnen, dass wir heutzutage viel Zeit auf einen Bildschirm ausgerichtet verbringen. Seit Monaten bin ich auf der Suche nach dem richtigen Maß – nach meinem Maß. Wie viel Zeit am PC ist ok, ohne aus der Balance gezogen zu werden, ohne das alle Energie in den Kopf steigt, ohne, dass die Stirn sich verdichtet, die Augenbrauen sich angespannt zueinander ziehen, der Körper kalt wird, die Beine schwer? Wann brauche ich Pausen und wie lange? Welche Signale übergehe ich immer wieder die mir deutlich zeigen, dass es zuviel wird?

Und da wir Zuhause arbeiten fehlt mir an diesen besonders langen Schreibtischtagen auch die Alltagsbewegung: kein morgendlicher Weg zur Arbeit, kein langer Gang, um zum Kopierer oder zum Drucker zu kommen. Kein Weg zur Sekretärin, um etwas zu besprechen. Die Toilette auch gleich um die Ecke. Zwischendurch die frisch gewaschene Wäsche aufhängen wird zur Meditationsübung mit ein wenig Dehnung, den Müll runterbringen und wieder drei Etagen hoch steigen zum Kreislaufanreger.

Aber das reicht nicht aus: am Ende des Tages schaue ich leicht schielend aus meinen Augen, die Handgelenke sind verengt, die Wirbelsäule ist eingesunken, die Füße sind kalt – trotz immer wieder Fußgymnastik unter dem Schreibtisch und dicker Socken. Und obwohl ich mir bewusst bin wie ich sitze und arbeite, mich auf dem Balkon zwischendurch atmend strecke und recke, fühlt sich der ganze Körper angerostet.

17.30 Uhr

Ich bereite kurz die Aufgaben für morgen vor, schließe den PC, räume meinen Schreibtisch auf, Drucker aus, Handy lautlos.

Schlüpfe hinein in gemütliche warme DraußenKleidung.

Nehme meinen Schlüssel.

Ziehe die Wohnungstür hinter mir zu.

Ich laufe den Berg hinunter, stecke die Post in den Briefkasten.

Es zieht mich in den Park.

Wir haben das große Glück fußläufig an einem großen Park zu wohnen, bergig eingebettet, mit vielen Blumen und alten Bäumen, weiten Wiesen und Blicken über Wuppertal.

Dort zieht es mich hin. Es zieht mich oft dorthin. Meist spüre ich genau, was ich nach einem solchen Tag brauche. Aber ich mache es nicht, anderes ist scheinbar wichtiger oder die Bequemlichkeit überwiegt. Doch heute ist genügend Entschlossenheit da, den aufsteigenden Impuls ernst zu nehmen und auch wirklich umzusetzen.

Mein Kopf fühlt sich quadratisch an, mein Körper in seiner Form ist nur grob spürbar, meine Bewegungen sind weniger geschmeidig als sonst, meine Augen blind für das was mich umgibt. Mein Kopf ist besetzt von den Dingen des Tages, Papieren, Anträgen, Rechnungen, emails, Buchhaltung, Seminarbuchungen, Erinnerungen, Listen, Päckchen, Briefen, Telefonaten.

Ich nehme die Bäume um mich herum wahr, aber ich sehe sie nicht. Ich laufe auf der Straße, aber es geschieht automatisch, losgelöst von meinem Kopf und meinem Herz. Der Körper bewegt sich eben – schließlich muss man sich ja irgendwie fortbewegen. Da sind Regen und Wind und Wolken, ich registriere die Häuser, die Menschen, die Blumen, aber sie bedeuten mir nichts. Sie sind nicht da.

Nein.

Ich bin nicht da.

Ich rausche bezuglos an der Welt vorbei.

Ich laufe. Weit. Vorbei an den kleinen Schrebergärten mit ihren vielen bunten Blumen, durch den Wald, über die Wiesen. Der Regen wird stärker.  Plötzlich – eine Weile schon – kühle satte Regentropfen im Gesicht. Sie sind mein Türöffner ins Spüren. Sie holen mich hinein in das was ist: jetzt. Die kalten Füße werden warm, die Schwere der Beine beginnt sich aufzulösen. Lachen perlt in mir, steigt durch mein Herz hindurch auf. Ich laufe weiter durch den Regen. Langsam.

Und dann ziehe ich meine Schuhe aus, die Socken

Stelle meine nackten Füße auf die kühle feuchte Erde

Stehen und spüren

Die Erde

Die eckig-harten Bucheckern unter den Fußsohlen lassen mich endgültig erwachen, ihr Pieksen lässt mich erst ein wenig zusammenzucken dann richtet es mich auf, die Eicheln massieren schmerzhafte Stellen, der Matsch schmiegt sich saftig an die Haut, das Gras kitzelt.

Ich laufe

Füße spürend

Atmend

Jeder Schritt ein Atemzug. Rechter Fuß einatmen, linker Fuß ausatmen. Die Bewegung folgt der Atmung. Manchmal bin ich zu schnell, dann folgt der Atem der Bewegung. Ich  nehme es wahr, halte kurz inne. Setze neu an. Ja, den Atem spüren und mit dem Heben und Setzen des Fußes verbinden.

Und dann geschieht es: Ich beginne wieder zu sehen, wirklich zu sehen. Aus der dichten großen bezuglosen Masse schält sich langsam das kleine, feine. Jeder Grashalm, jedes Stöckchen, die kleinen Steinchen, die verschiedenen Färbungen der Erde, die weißen flauschigen Federn die immer wieder am Boden liegen, das zarte Moos, die Wurzeln und Rinden der Bäume, die vielen bunten Blätter mit ihren ganz unterschiedlichen Formen, die roten Beeren, die versteckten Gänseblümchen, der feuchte Glanz der über allem liegt.

Der Körper entspannt sich, der diffuse Gedankenmatsch löst sich auf, die einzelnen Gedanken darin sind auf nichts mehr gerichtet was war oder kommt. Der Geist wird weich. Freude durchströmt mich, mein Brustkorb fühlt sich weit an, das Herz warm, Blut pulsiert.

 

Atmung und Körperbewegung in Gleichklang bringend, habe ich wieder einmal die Dinge des Tages hinter mir gelassen.

 

Von weitem schon, sehe ich eine Frau vor dem Regen geschützt unter einem dicht gewachsenen alten Baum auf der Bank sitzen. Als ich näher komme ruft sie zu mir herüber: „Sie laufen ja barfuß. Ist das nicht viel zu kalt? Aber sie sehen glücklich aus.“ Fröhlich lacht sie mich an mit ihrer knallroten Jacke. „Ja, es ist auch kalt und zugleich so herrlich an den Füßen. Und nach einem langen Schreibtischtag genau das Richtige, um nicht so plemplem im Kopf zu sein.“

Sie schaut mich noch immer lachend aber fragend an. „Ja???“ „Ja!“ reagiere ich. Mit einem zweifelnden Blick  schaut sie auf ihre Füße, auf meine, wieder auf ihre. Dann beugt sie sich entschlossen nach vorn, zieht konsequent ihre Schuhe und Strümpfe aus und stellt sich vorsichtig zögernd in das nasse Gras. Sie hält ein wenig die Luft an dabei und dann beginnt sie laut zu lachen. „Das ist ja verrückt, sowas habe ich noch nie getan.“ Sie lacht und lacht und beginnt zu laufen. Ein bisschen wie ein Storch. Und ich laufe neben ihr.

Lachend

Und auch wie ein Storch

 

FeierAbend