Gegangen gegangen gegangen

 

Sonnentage im Herbst in einer Stadt 630 km entfernt von Wuppertal.

Meine Heimatstadt. Hier wo meine ganze große Familie lebt. Hier wo ich mit 42 Jahren noch Enkeltochter bin von zwei Großmüttern. Hier wo ich Enkeltochter bin meines Großvaters. Noch.

Eine Reise dorthin wo ich geboren wurde.

Eine Reise, um DazuSein.

Um Dazusein im Sterben.

Der Anruf meiner Tante erreichte mich und sie sagte komm. Wir wussten beide, dass es an der Zeit war, all die kleinen und großen Wichtigkeiten des Alltags, all die scheinbar dringlichen Verantwortlichkeiten abzugeben. Ganz. Ganz abzugeben an die Kollegen, an unsere Ehemänner, ganz abzugeben an die Bereitschaft derjenigen die Mittragen in bedeutsamen Zeiten in unseren Leben ohne es zu wissen. Ja, es war an der Zeit, all die vielen scheinbar unbedingt zu tuenden Dinge liegen und warten zu lassen und einfach nicht zu tun. Jetzt. Ohne groß nachzudenken und ohne je darüber gesprochen zu haben, wussten wir, dass wir da sein wollten und das wir beide da sein konnten, mit allem was kommen würde. Dass wir Dasein würden an diesem gestillten Höhepunkt eines Lebens. Wir wussten, dass wir das größte Liebesgeschenk zu geben bereit waren: Vater und Großvater in seinen letzten Wochen, Tagen, Stunden zu begleiten.

Sonnentage im beginnenden Herbst, warme milde Tage. Immer wieder wollen die frühen Sonnenstrahlen ihren Weg finden in das stille Zimmer in dem die Zeit sich auflöst und nur noch in Tag und Nacht existiert. Hier lebt mein Großvater seit einigen  Monaten in einem kleinen familiär geführten Pflegeheim. Nach einem Schlaganfall war es nicht mehr möglich allein zu leben und so ergab er sich der nie für möglich gehaltenen Notwendigkeit, ein letztes Mal umzuziehen. Ein helles Zimmer unter dem Dach mit zwei großen Fenstern, einem sehr geräumigen Bad, seinem großen Sessel, und all den kleinen lieb gewonnenen Dingen, die ihn schon lange begleiten, die gelbe Obstschale, das bunte Tablett, eine Katze aus Stein, die Glastelleruhr, kleine Holzrehe, zwei Steinmännchen die ich mein Leben lang schon kenne, über seinem Bett der Globus, an den Wänden Bilder seiner drei Töchter und vielen Enkelkinder, ein Ölbild vom Usedomer Bodden. Immer frische Blumen auf dem Tisch, runde dicke Teppiche auf dem Boden, warmes Licht der Stehlampe, fast tägliche Besuche. Ein gemütliches kuscheliges Wohnzimmer, in dem er gerne nach Jahren endlich wieder seine Mundharmonika spielt und damit auch die anderen Mitbewohner und die Pflegeschwestern glücklich erfreut.

Doch seit zwei Wochen schon liegt die Mundharmonika ungespielt auf dem Nachttisch. Neben dem Glas mit der Apfelschorle, seinem Lieblingsgetränk. Das Glas, das seit Tagen immer wieder frisch befüllt und aus dem doch nicht mehr getrunken wird. Ein Tisch, auf dem immer wieder frisch gekochtes Essen steht und doch wird in diesem Zimmer nicht mehr gegessen. Seit einer Woche schon nicht mehr. Immer wieder kommen die Schwestern und bieten ihm aus Sorge Essen und Trinken an, immer wieder bitten wir sie zu respektieren, dass er beides nicht mehr will.

Opa möchte sterben. Er ist müde geworden von 90 Jahren Leben hier. Mit allem was an falschem Krieg und Schuld erfülltem Frieden in so einem Leben, geboren 1926 dazu gehören kann. Müde geworden von der Last schwieriger Entscheidungen, unwissender Handlungen und ihren Folgen für andere. Müde geworden in der Lebenseinsamkeit, die in einer großen Kammer seines Herzen wohnt. Müde geworden in seinem ambivalenten Wunsch nach Nähe. Müde geworden von den vielen Stunden allein, von den langen Nächten im erkalteten Bett, ohne das der Schlaf ihm Ruhe gibt. Müde geworden in einem Körper, der immer mehr Schmerzen bereitet, einem Körper der sich seinem Willen entzieht. Müde. Einfach müde.

Darf ein 90jähriger Mensch müde sein, nicht mehr wollen, nicht mehr essen, nicht mehr trinken? Darf ein Mensch entscheiden, keine scheinbar lebensnotwendigen Tabletten mehr zu nehmen? Darf ein Mensch einsam und traurig sein, ohne das alle um ihn herum versuchen, ihn zum Leben zu bewegen: ja so esse doch, trink doch, sei fröhlich, geh raus, du musst spazieren gehen, du bist zu viel allein, komm wir spielen Mensch ärger dich nicht?

Er darf.

Er darf müde sein. Er darf nicht mehr wollen. Er braucht nichts mehr zu müssen.

Und doch ist es da das Müssen, existenziell. Bedrohlich. Der Wunsch allein zur Toilette zu gehen ist enorm groß. So wie all die letzten Jahre schon, ist da die tief sitzende Angst, die längst verlorene Kontrolle über die Blase zu verlieren. An die Möglichkeiten der Unterstützung hat er sich gewöhnt, aber dort hinein bewusst loszulassen ist ein enormer Akt der Überwindung. Unruhe treibt ihn. Trotz zunehmender Schwäche wandert er: vom Bett schiebt er sich auf den Toilettenstuhl, vom Toilettenstuhl in den Sessel, vom Sessel ins Bett. Hinlegen. Zudecken mit zwei dicken Decken. Das Heizkissen wärmt von unten. Die Heizung ist aufgedreht. Er friert. Und weiter. Sich mühsam aufrichten. Die Beine zum Boden bringen. Warten. Kraft schöpfen. Eine Minute, drei, fünf. Er schaut mich an, sein Blick bittet um Hilfe, die er jetzt am Lebensende endlich annehmen kann.  Ihn halten, drehen, behilflich sein ohne zu bevormunden, klar sein ohne zu zwingen. Unterstützen wie ein kraftvoller Hauch, der ihm hilft seine Würde zu wahren ohne ihn der Hilflosigkeit preis zu geben. Respekt und Liebe. Erkennen was er braucht, spüren was er nicht will. Bestimmt sein, wenn es notwendig ist, um ihm Sicherheit und Orientierung zu geben.

Da Sein.

Wir sind da. Rund um die Uhr sind wir im Pflegeheim. Jede von uns im Wechsel von morgens 10 bis zum kommenden Morgen. Dazwischen am frühen Abend 3-4 Stunden zum Essen, spazieren, Leben atmen. Gemeinsame Zeit auch, in der Tante und Nichte fern von Alter zu zwei Frauen werden, von denen jede auf ihre ganz eigene Weise da ist, um in dieser besonderen Zeit nicht nur Vater und Großvater sondern auch einander zu behüten, zu respektieren, zu sehen und zu spüren was zu tun ist, und was zu lassen. Intensiv. Nah. Liebend.

Opa badet in Liebe. Opa, der Mutterliebe nicht kannte. Opa, der oft von Jähzorn ergriffen war, ein kluger, kritischer und stolzer Mann, charmant, von Frauen umschwärmt, die Frauen umschwärmend und um jeden Preis autonom, Opa der oft seinen Mund nicht halten konnte obwohl er es um des Friedens willen gerne getan hätte und doch nicht immer vermochte.

Und Opa gibt, mit jedem Lächeln, mit seinen Blicken, wenn er mit seinen steifen und zugleich behutsamen schlanken Fingern über unsere Hände streichelt, voller Liebe unsere Gesichter berührt, wenn seine Lippen weiche Küsse in die Luft stupsen, wenn er sich vergewissert ob eine von uns da ist. Wenn er immer wieder die Augen öffnet nachts aus dem Schlaf erwachend und feststellt nicht allein zu sein. Diese großen dankbaren Augen…

Aufgelöste Zeit vergeht

Eine Woche. Zwei. Drei.

Er wird schwächer. Seine Arme und Beine dünner. Sein Bauch ist verschwunden. Seine Kraft wird weniger. Trotz vieler Tage ohne etwas zu trinken ist da der starke Drang zur Toilette. Alles wird intensiver. Düfte werden zu Gerüchen, Lebensgeräusche wandeln sich zu Klängen des Sterbens. Seine Atmung verändert sich. Sie wird beschwerter, mühsamer, ringend. Die Atempausen am Ende der Ausatmung werden länger. Bis zu einer Minute. Der Tod ist greifbar und schon längst in seinen Zügen zu sehen. Er spricht nur noch wenige Worte. Die dann plötzlich ganz klar und wach aus ihm kommen. Er ist da und zugleich schon weit weg. Berührungen möchte er nicht mehr. Wir sitzen nicht mehr so nah bei ihm, sind jetzt meist zu zweit da. Der Raum um sein Bett hat sich verändert. Das Leben zieht sich langsam zurück und möchte dabei nicht gestört, nicht aufgehalten werden.

20.09.

Die vergangene Nacht brachte große Veränderungen. Ich war auf dem Boden eingeschlafen. Als ich aufwachte lag Opa im Nassen, sich unruhig im Bett wälzend. Zum ersten Mal in den drei Wochen rufen wir den Nachtpfleger und bitten ihn um Hilfe. Stellen das Bett nun so, dass wir von beiden Seiten heran und gut die Handgriffe tun können, die jetzt hilfreich sind. Drehen Opa behutsam, ziehen ihn aus, wieder an, beziehen das Bett neu, machen alles frisch. Opa liegt da wie ein gerupftes Hühnchen, Haut und Knochen. Immer wieder lange erleichterte Ausatmungen, wie angestrengte dankbare Seufzer.

Opas Bett steht nun verändert am Raum. Aus dem Wohnzimmer ist plötzlich ein Pflegezimmer geworden. Es fühlt sich so anders an. Bereit.

Er schläft viel, seit einigen Tagen schon liegt er fest im Bett. Dank Morphinpflastern und Zäpfchen ist die Unruhe von ihm gewichen. Sein Gesicht hat sich verändert. Zu viel Entspannung liegt in seinen Zügen. Sie lässt ihn im ersten Moment fremd erscheinen. Noch immer zeigt er in winzigsten Bewegungen was er möchte und was nicht. Es ist so berührend sein Bedürfnis nach Selbstbestimmung zu sehen verbunden mit der Hingabe an das was geschieht. Beides ist zugleich da. Die Hauskatze hat sich wie fast jeden Tag ins Zimmer geschlichen und zu ihm ins Bett gelegt. Sie darf nah sein.

Er ist nun ganz und gar wachend vom Tod umworben. Er ist mit einer leichten Decke zugedeckt, das Federbett ist zu schwer auf ihm geworden. So wie an allen anderen Tagen auch ist meine Mutter und ihre noch nicht so lange aus der Ferne angereiste ältere Schwester gekommen. Meine Mutter kümmert sich um die Wäsche und all die organisatorischen Dinge mit Ärzten und Apotheke, Krankenkassen, Finanzen, Behörden. Die Beiden halten uns den Rücken frei, sorgen für uns zwei Frauen. Sitzen bei ihm. Jede hat ihre Zeit mit ihm, soviel Zeit wie jede tragen kann. Alles ist genau richtig so. Die Sonne scheint ins Zimmer. Über dem Bett leuchtet der Globus, wie haben ihn angemacht, er sieht aus wie der Mond.

Gegen 17 Uhr sind wir drei wieder allein.

18.15, ich komme gerade aus dem Bad. Meine Tante hat eine Unruhe erfasst mit dem plötzlichen Wunsch nach Musik. Ich bin noch am Überlegen wie wir an Musik kommen, als sie sagt, Kati komm schnell. Beide stehen wir nun an Opas Bett, rechts und links von ihm. Wir haben sein Kopfteil fast senkrecht gestellt, damit er in seinem schweren Atmen im Bett sitzend besser Luft bekommen kann. Da beginnt meine Tante zu singen, ein Mantra von dem wir beide nicht wissen was es bedeutet.

Und Opa atmet  ein und dann         a  u   s

Wir singen

Meine Tante steht aufrecht und von Liebe durchdrungen rechts neben dem Bett, ich habe mich links von ihm auf den Stuhl gesetzt, meine Hand aus einem Impuls heraus still auf seinen Arm gelegt.

Wir singen

Unser Singen durchdringt das ganze Haus. Durchdringt uns, ihn, alles.

Wir singen

Wir singen während aus seinem linken Auge eine Träne rinnt, diese eine Träne, die mir die Stimme nimmt und mich weinen lässt

Wir singen und singen und singen, während meine Tante mit großen Armbewegungen seiner Seele den Weg frei macht weiter zu gehen. Geh Papa, geh …

Wir singen

Singen

Singen

Singen

Singen

Singen

Wir singen

Kraftvoll glücklich erleichtert traurig frei

10 Minuten, 20, 30

Ich weiß es nicht mehr.

Wir singen, bis wir ganz sicher sind, dass der letzte Atem verströmt ist und es kein e i n  mehr geben wird

es wirklich kein   e i n   mehr gibt

 

 

Stille, Leichtigkeit & Liebe erfüllen den Raum, eine große Freude und unendliche Dankbarkeit und das Gefühl zu schweben

Es ist vorbei. Er hat es geschafft.

Losgelöst

Frei

 

 

Zehn Minuten später ist meine Mutter bei uns. Sie ist da, sie kann da sein. Was für ein Geschenk. An sich selbst, an ihren Vater, an uns.

 

Staunend sitzen wir drei Frauen einander so nah bei Opas verlassenem Körper, staunend und bewegt von dem Wunder des Sterbens, staunend und bewegt von dem Wunder des Todes

Gegangen gegangen, den ganzen Weg gegangen

 

Gegangen in Liebe