Geteiltes Herzensstück – Oder: Lebenskreis

 

Seit vielen Jahren gibt es ein Stück, das innerhalb meines Zuhauses ein Wohlfühlort für mich ist.
Es begegnete mir 2003 auf einem alten Gutshof am Rande des Spreewaldes in einem kleinen Dorf.
Mein Großvater hatte nach einigen Jahren der Suche eine neue warmherzliche Verliebte, die ich zusammen mit meiner Mutter wieder einmal besuchte. 
Ein altes Gutshaus mit morbider russischer Veranda und bunten Fenstern, umgeben von Wiesen und Ställen am Dorfrand. Alles still und seit Jahren ungenutzt. 
Die Räume groß, herrschaftlich-bäuerlich und sehr alt.
Ich war begeistert und fasziniert und am liebsten hätte ich mir jeden einzelnen Raum – egal ob leer oder bewohnt – ganz genau angeschaut.
Waltraud bemerkte meine Begeisterung und zeigte mir bereitwillig die von ihr genutzten Räume.

 

Und da stand es:

Ein weinrotes Chaiselongue.

Mit feinem, floralem Muster. 

 

Es fiel direkt in mein Herz. 
Kann ein Möbelstück in ein Herz fallen?
Ja!
Inzwischen 70 Jahre alt, verstrahlte es seine alte, würdig-erdige Schönheit und Geschichte und so viel Leben.
Und mit Begeisterung sagte ich ohne zu überlegen zu ihr: „Liebe Waltraud, solltest du irgendwann dieses Stück nicht mehr benötigen, dann denke an mich.“
2 Jahre später kam der Anruf.
2 Jahre später stand es durch mich und ihren Sohn Steffen mit extremem Willen getragen in der 3. Etage am Oberkirchplatz unter dem Schutz der Kirche und ich war glücklich.
Nach 4 Kindern, die auf diesem Sofa schliefen und ihre Kindheit nachts dort verbracht haben, war es nun bei mir. 
Und es blieb bei mir. 
Es zog in Cottbus 2x mit mir um. Stand erst unter der Kirche, dann im weiträumigen Loft einer hochwertig sanierten Textilfabrik, dann im modernen Neubau mit großen Fenstern.

 

 

Und ging mit mir 2012 von Cottbus für ein Jahr nach Bad Meinberg in den Westen des Landes.
Doch das war kein so passender Ort für mich und mein florales Sofa. 
Deshalb entschieden wir uns, ab 2013 reisend unterwegs zu sein.
Das hieß, mein Leben auf drei Koffer zu schrumpfen.
Geht das? 

 

Ja. 

 

eine eigene Bettdecke und das eigene Kopfkissen in einem Koffer
* das Büro in einem anderen Koffer
* und der dritte Koffer für die Kleidung.

 

Und zusätzlich ganz luxuriös: eine kleine Kiste mit meinen Herzensstücken. Darin u. a. eine ganz dünnwandige Glasteekanne meiner Freundin Petra und zwei hellblaue, zart geblümte Teeschalen aus meiner Lieblingsteestube Oblomov in Cottbus. 
Herzensstücke und Müßiggang und Träume in einer kleinen Schatzkiste. 
Mein weinrotes Chaiselongue passte dort nicht hinein.

 

Reisend leben.
Die materille Seite des Lebens dunkel eingelagert in Holland.
Beim Schwiegervater. 

 

Es war schwer für mich.

 

Ich musste Luftwurzeln bilden. 
Dort wurzeln, wo ich gerade bin. 
Immer wieder neu. 

 

Puh.
Anstrengend.

 

Nach einigen Monaten war klar: Auf Dauer schaffe ich das nicht.
Und so hielt das Leben eine Lösung bereit. 
Die Trösterfamilie und ihr Blaues Haus im Frankenland.
Wir wurden adoptiert von dieser herzlichen Künstlerfamilie.
Wir bezogen für 2 Jahre bei ihnen ein großes Zimmer im alten Haus von 1703 und holten uns einige wenige ausrangierte Möbelstücke aus der Scheune.

 

Wir heirateten ein zweites Mal. Dieses Mal im großen Tonnengewölbesaal des Blauen Hauses mit unseren Familien und unseren Freunden. 
Eine Hochzeit, bei der jeder der 70 Menschen anpackte, jeder mitgestaltete und alle gemeinsam kochten. 
4 Tage lang. 

 

 
Und ich bekam ein ganz besonderes Geschenk.
Adriaan hatte organisiert, dass mein Schwiegervater Gijs die weite Reise mit dem Kleinbus bewältigte und etwas mitbrachte:

Mein innig geliebtes Chaiselongue. Samt Lampe und kleinem Tischchen. Meine Insel im „ausländischen“ 😉 Frankenland, wo wir unser Zimmer mit Holz beheizten und im Winter die Fensterscheiben von innen mit Eisblumen übersät waren.

 

Nun steht es seit 2015 hier bei mir in der WohnzimmerKüche in Wuppertal.

So wie ich es kenne von meiner Urgroßmutter Margarete. (Ja liebe Maggi, auch deshalb sage ich so gern Margarete zu dir.)

Einen Herzenswunsch habe ich mir damit erfüllt.

Bei ihr stand neben dem großen, ausklappbaren Waschtisch mit den zwei alten riesigen Emailleschüsseln und dem eisernen, fast immer heißen Feuerofen, ein altes Sofa, auf dem ein Stapel gesammelter, vergilbter Zeitungen lag und die Katze, und auf dem ich früh am Morgen, während der Rest der großen Familie noch unter den dicken Federbetten schlief, mit zarten 7 Jahren die extra für mich zubereitete Haferflockensuppe löffelte (mit Zimt&Zuckerkruste darüber) und ganz frische Milch aus der Tasse mit dem Katzengesicht trank, bevor ich mich meinen beiden Brüdern weit voraus ins ferientägliche, abenteuerliche Kirschbaum- und WildeBächelandleben stürzte oder meine Sommertage in den Schatzkisten auf dem Dachboden oder lesend verbrachte und nur zum Essen in die gute Stube zurück kam.

Und so fühle ich mich noch heute, wenn ich auf ihm sitze und in sehr alte Geschichten der Welt eintauche, Mittagsschlaf halte, nachts wenn ich nicht schlafen kann einen Tee trinke, Texte schreibe oder für Prüfungen lerne.

Seit einiger Zeit nun teile ich meine Liebe zu diesem Stück.

Seit Januar sitzen immer wieder Frauen mit mir auf den weinroten Blumen. 

Ach dieser Moment, wenn morgens diejenige aus ihrem Frauenzimmer kommt, mich anstrahlt, sich zu mir setzt und wir zusammen heißes Morgenwasser trinken. Oder diejenige mir von dort, eingekuschelt in eine warme Decke, beim Kochen zuschaut. Oder Sabine, die mir bei der Buchhaltung hilft und darauf ihren Mittagsschlaft macht. Oder eine einfach nur da ist, mit einer Schale Tee auf Blumen, und atmet.

Sich atmet. 

Dann ist das Leben ganz rund für mich und ein Kreis hat sich geschlossen:

Nun gebe ich weiter, was ich als geborgen und warm und liebend erfahren habe – vor vielen Jahren im Reich einer einsamen alten Frau, deren Leben von enormen Härten, zahlreichen Verlusten und dramatischen Kriegsübergriffen gezeichnet war und die mir auf ihre unbeholfene Weise in ihrer Küche morgens, von den anderen der Familie ungesehen, ihre verborgene Liebe zeigte. 

 

Teilen und sich trauen ist so schön.