J a !

 

Vor einigen Wochen – während unserer 10tägigen Herbstretreatzeit in Stille – erreichte mich eine mail mit der Bitte um einige Worte.

Ich bin der Fragerin sehr dankbar dafür. Auch weil ich glaube, dass sie eine universelle Situation beschreibt, mit der viele Menschen zu tun haben. 

 

 

„So viele Jahre hab ich mich an Hoffnungen geklammert wie „ich muss nur dieses eine Gespräch führen, dann sind all meine Probleme gelöst“. Oder „ich muss das nur lang genug üben, und wenn ich es kann, dann sind all meine Probleme gelöst“.

Das hab ich nun alles gemacht und da ist tatsächlich auf der einen Seite etwas gelöst, und auf der anderen Seite verharrt etwas hartnäckig weiter im Widerstandsmodus.

Weißt du, ich hab Angst zu sein wie mein Vater. Der ist auch gefangen in seinen Ängsten. Schließlich habe ich jahrelang dagegen angekämpft so zu sein wie er. Ich stelle nun fest, dass das gar nicht viel genutzt hat. Dinge, die ich tue oder sage erinnern mich trotzdem total an ihn.

Das tut richtig weh zu sehen, wie sinnlos mein Glauben war, das man sich ändern kann, wenn man es wirklich will. Ich wollte es wirklich und schaffe es trotzdem nicht. Ich bin wie gefangen.

Kennst du so eine Situation? Kannst du mir dazu ein paar Zeilen schreiben??!!“

 

 

 

Liebe XY, 

ich grüße dich herzlich aus der Stille von Haus Tabor.

Vipassana 3. Tag. 

20 Menschen.

Es regnet. 

 

Liebe XY, 

ich wollte nie sein wie meine Mutter:

Ängstlich, sorgenvoll, depressiv,  

vorwurfsvoll, schnell belastet, schnell überlastet, perfekt, sich immer kümmernd um andere und sich selbst vergessend, 

einmischend, mitleidend, zwanghaft ordentlich, verkrampft, überbordend, 

verneinend, unsicher, bevormundend, vereinnahmend, hektisch, unruhig, wechselhaft, 

 

Ich wollte nie sein wie mein Vater: 

wortlos, still, distanziert, streng, cholerisch, kühl, zurückgezogen, kontaktlos,  leistungsorientiert, arbeitswütig,

sehr pflichtbewusst, verkrampft, scheu, ängstlich, beschämt, rigoros, penibel, einsam 

 

Und ich bin wie beide.

Sie sind ein Teil von mir.

 

Ja.

Ein Teil.

 

Heute kann ich das sagen.

 

Geboren aus dem Leben.

Geboren aus der Stille. 

Die Stille in mir wollte nicht mehr, dass ich mich weiter dafür hasse. 

Die Stille in mir wollte nicht mehr, dass ich immer weiter gegen mich kämpfe. 

 

Aber es hat viele Jahre gedauert, das zu erkennen.

Viele zigtausende Atemzüge lang. 

Viele kleine Schrittchen.

Ganz oft Aua

Viele Tränen.

Zweifel. 

 

 

Ja, ich bin auch wie meine Mutter.

Ich bin auch wie mein Vater. 

 

So bin ich.

 

J a.

 

neben all dem bin ich so wie sie: 

fröhlich, herzlich, grosszügig, fürsorglich, leidenschaftlich, hilfsbereit, bescheiden, sozial, meditativ,  künstlerisch, kraftvoll, scheu, verbunden, bewahrend, vorausschauend, schüchtern,  mitfühlend, verantwortungsvoll, leistungsstark, gewissenhaft, zuverlässig, autonom, familiär, umsorgend, willensstark, kommunikativ, passioniert, gründlich, tief, konzentriert, tiefgründig

 

in großer Dankbarkeit bin ich all das auch

 

Und:

Ich bin viel, viel mehr als das.

 

Nämlich ich: 

in meinem ganz eigenen, einmaligen Ausdruck des Lebens.

still, sehend, spürend, fühlend

da bin ich zuhause

in mir

 

Mit allem was da dazugehört.

 

Und dazu gehört bei mir auch die Angst.

Die sich auf die Stille legt.

Immer wieder.

Zu mir gehört auch die Traurigkeit. 

Die Scheu.

Die Schüchternheit.

Die Mutlosigkeit. 

Die Wut.

 

Ja.

 

Ich fühle sie immer wieder.

Durchfühle all das.

 

Immer mehr ohne irgendjemanden die Verantwortung zu geben dafür

(echt schwer, so richtig richtig schwer…)

 

Spüre.

Sehe meine Gedanken.

Fühle in meinen Körper 

Traue mich

 

Vertraue mir, dass ich vom Fühlen nicht sterben werde

 

Und … 

 

 

… liebe mich immer ein bisschen mehr

 

Weil ich erkannt habe, dass meine Eltern und auch andere wichtige Menschen dicke Spuren hinterlassen haben auf meinem Sein.

Spuren, die sich in mir eingegraben haben durch das Leben

Spuren, die ich lange lebendig gehalten habe durch festgehaltene Erinnerungen, Erklärungen, Analysen, Verstehen wollen, Vorwürfe

Und auch das Erbe unserer Familienlinien lebt in mir. 

Ihre Themen wirken in mir. 

 

Ich erkenne.

 

Erlebe.

Erfahre.

 

Schäle mich jeden Tag, mit jedem Jahr mehr frei davon.

 

Und erlebe immer öfter Momente in denen sich offenbart wer ich bin:

 

Bewusstsein für das was ist & Liebe für das was ist

egal was gerade ist

 

     f r e i 

 

Manchmal 😉 

 

Immer wieder

 

Es wird häufiger.

 

Länger.

 

Dichter. 

 

Es wird Leben.

Lebendigkeit.

 

Sein. 

 

ZuhauseSein.

In mir. Mit mir. Mit allem.

 

   F r e i 

 

Atmen.

Spüren. 

 

Dranbleiben.

immer weiter dranbleiben 

 

und weich werden

trotz und auch wegen der Verzweiflung, der Angst, der Verkrampfung, der Wut. 

 

Fühlen

 

Und an all dem so so Guten in deinem Leben:

Dranbleiben.

 

Schrittchen für Schrittchen

zigtausend Atemzüge lang 

 

… Und es wird sich wandeln 

 

 

        ü b e r    d i e   Z e i t

 

 

Herzliche Herbstgrüße aus Haus Tabor zu dir

Vipassana 3. Tag. 

20 Menschen.

Es regnet. 

 

Ich danke dir Mutsch,  
dass ich diesen Text so veröffentlichen kann.
Danke, dass du da bist.