November – Zeit der Ahnen

 

Heute Morgen sitze ich in unserer Küche, im Korbsessel neben der warmen Heizung. Meine Haferflockensuppe löffelnd betrachte ich wie jeden Tag neu unseren Ahnenaltar.

An einer Wand unserer Wohnzimmerküche wohnen die Bilder der Menschen, die wir in diesem Leben hier schon verabschiedet haben: Adriaans Bruder, seine geliebte Großmutter, seine Großeltern, zwei meiner Großväter, meine Großmütter und Urgroßmütter, Lehrer Adriaans, Geertje, die ihm lange Zeit Wahlmutter war. Und Zappo, der Freund eines Freundes von uns, der zur gleichen Zeit starb wie Adriaans Bruder.

In diesen Novembertagen brennt bei ihren Bildern still eine dicke Kerze.

An unserer Ahnenwand wohnt auch Tante Lollo – eine besondere Frau in unserem Leben. Ich denke sehr gern an sie und trage sie auch in meinem Alltag bei mir. Einige der Menschen die mit uns üben, haben sie ebenfalls kennengelernt – als wir zwei Jahre im 1792 gebauten Blauen Haus bei Bayreuth lebten – inmitten einer Großfamilie, die uns in einer besonderen Lebenssituation mit viel Liebe in ihr Leben aufgenommen hatte.

In Tante Lollo ist mir die rauhe Seite der Würde des Altern, des Annehmen Könnens was da ist und die Schönheit des Todes begegnet.

 

Dezember

Vorletzten Donnerstag ist unsere 90-jährige Tante Lollo in unserer Küche, dort wo wir sonst zu neunt um den Esstisch sitzen und sie auf der Küchenbank sitzend viele Kreuzworträtzel löste, die Tageszeitung las, ihren Kaffee trank, Telefonate mit ihren vielen (Ur)(Groß)Nichten und (Ur)(Groß)Neffen und ihren – so ihre Worte – drei alten Schachteln führte, wo wir Schafkopf spielten und sie laut fluchend im Canasta verlor, wo sie zu vielen Dingen ihren Kommentar hatte und immer wusste wie man es besser macht, wo sie – als eine ihrer wichtigen Kindergartenfreundinnen starb – weinen wollte aber nicht konnte, dort ist sie auf ihrem grünen Kanapee unter dem Fenster im Licht des frühen Abends eingeschlafen.

Wir waren bei ihr, friedlich und still lag sie da und das hitzig kalte Blau der Haut der letzten langen Tage und Nächte wurde nun langsam hell, gelb und kühl. Wir haben ihr die Perücke abgenommen und sie sah so schön aus wie eine Nonne – unsere Katholische Jungfrau.

Für mich war Lollo am Morgen ein Engel, tagsüber ein Drachen und abends eine weise Frau. Ich habe viel von ihr über das Leben gelernt, über die große Bedeutung die Niveacreme im Leben einer 90-Jährigen haben kann, über das Altern und das Sterben. Und über die Kraft die da sein kann, wenn der Körper immer mehr loslässt und du dich dem hingeben musst und dieses müssen kannst.

Ich habe lange Stunden in ihrem Zimmerchen bei ihrem nun ganz zur Ruhe gekommenen Leib gesessen und beobachtet wie der Körper sich aufzulösen beginnt, durchlässig wird. Ich konnte frei von Angst das tiefe Sinken spüren, das mit dem Tod zu uns kommt, den klaren Raum der entsteht und die heimgekehrte Zeitlosigkeit. Ihr Gehen hat mir einen großen Frieden geschenkt, eine Stille, die die Schönheit und den Klang der Dinge noch tiefer erfahrbar macht.

Das eine Jahr, das ich sehr nah mit ihr als sehr altem Menschen inmitten der turbulenten Großfamilie verbringen konnte, hat mich mit meinen 39 Jahren dazu ermutigt, meine seit dem 15. Lebensjahr mit henna gefärbten langen Locken endlich so sein zu lassen wie sie wirklich sind und ich werde langsam grau. Es ist so aufregend zu sehen, was sich nun zeigt und was schon sehr lange da ist, was ich in seiner natürlichen Schönheit aber nicht annehmen konnte und auch deshalb mit Künstlichkeit zudeckte.

Die Zeit mir ihr hat mich dazu gebracht, meine Angst vor den Veränderungen des Körpers zu fühlen. Sie hat mich dazu gebracht, die Hässlichkeit des Alten und die darin verborgene Schönheit wirklich zu sehen und streicheln zu können.

Und auch dank ihrem Hinübergehen ist mir klar geworden, dass es nicht die Angst vor dem Tod ist die in mir lebt, sondern es ist die Angst, die immer wieder neu „unerledigten Themen“ nicht rechtzeitig „erledigen“ zu können.

In meinem Leben gab es eine Zeit in der alles eins war, alles geklärt war, alles in Harmonie. Damals fühlte ich, wusste ich – ohne selbstmörderisch zu sein – jetzt könnte ich sterben. Es ist erledigt – ich bin frei. Seit damals sind drei Jahre vergangen und ich bin wieder in eine noch tiefere Tiefe eingetreten, in neue – alte Themen, neue – alte Ängste. Und alles in mir sucht diese Harmonie, sucht immer wieder neu das Sein können mit allem was ist. Ich bin auf dem Weg. Ich werde wieder zu ich bin. Auch dank der vielen Menschen die uns begegnen, dank der vielen Menschen die mit uns üben. `Denn Du kannst den Weg nur allein gehen, aber allein kannst du ihn nicht gehen.`

Und Tante Lollo?

Tante Lollo ist da.

Jeden Tag

Einige Wochen vor ihrem Tod sitzt sie wie immer auf der Bank  in der Küche, vor ihr steht eine Tasche.

Ihre Handtasche, die sie mit 26 Jahren von ihrem ersten selbstverdienten Geld kaufte.

Ihre Handtasche, die die einzige Handtasche ist, die sie je besessen hat – ihr ganzes langes Leben schon. Seit 64 Jahren. Dickes starkes Leder. Handarbeit. Robust und trotzdem elegant.

Zeitlos

Schön

„Sie ist für dich. Ich weiß, dass sie bei dir genau richtig ist.“

Ihre kleinen wässrigen Augen schauen mich groß an.

Ich bin sprachlos

Bei so vielen Nichten und Großnichten und Urgroßnichten schenkt sie MIR ihre Handtasche?

Sie ist gerührt von meiner Sprachlosigkeit aber zu burschikos, um ihre Rührung auszuhalten.

Da kommt aus der Tiefe ein ungedachter Satz über meine Lippen:

„Tante Lollo, ich werde dich immer in meinen Armen tragen.“

Die Augen feucht, beide, umarmen wir einander.

Bis heute