05. März

 

Meine große Kleine, 

Ich sitze gerade im abgedunkelten Zimmer, das Fenster weit offen. Die Klänge des Abends fliegen zu mir. 21 Uhr. In Deutschland müsste es jetzt ca. 16 Uhr sein. 

Eines der Fenster führt hinaus zum Raucher-Balkon, meinem nächtlichen heimlichen Schlafplatz. Dort sitzen die drei Jungs und reden. Rauchen. Ich höre Worte wie ‚Annapurna Base Camp. Wochenlanges Trekking. Fitnessstudio. Was machen wir morgen? Ich muss noch telefonieren.‘

Die Jungs 19 und 20. 

Abitur und derzeit ohne Plan. 

Einer von ihnen Jonathan, ein Feingeist, sucht meine Nähe, erfreut sich am Verlangsamen und seinem Suchen nach den genau richtigen Wörtern. Sein Großvater, 84, ehemaliger Leiter einer Kunsthochschule. Mit wieviel Respekt & Liebe er von ihm spricht… so schön. Zwei liebende Enkelkinder im anregenden Austausch. 

 

Einen Plan für heute hatte ich nicht. 

Und schaue zurück auf einen erfüllten Tag. 

Mit staunender Selbstverständlichkeit bin ich gelandet und wirklich hier. Nach einer Nacht mit einem eindringlichen Traum. 

 

Ach Oma, so oft erzählten wir uns auch unsere Träume. Die deinen waren meist weniger schön und dann riefst du mich an und wir redeten bis die Qual verflogen war. 

Der Tod von Thomas lies dich nie los. Wie soll es auch, wenn man seinen Erstgeborenen an das bedrückende, einsam übermannte Zuviel des selbstgebastelten glitzernden Schein-Leben verliert. Sein freier Tod knebelte dich und ließ deine Tränen versiegen, verbohrte sich als zusätzlicher Schmerz zu allem was schon war, in deinen Körper und ließ dich in den Nächten wachen. Oder Albträumen. 

Ja. Unsere Träume. 

Inzwischen erzähle ich manchmal nun anderen Menschen von meinen Träumen. 

Manchmal. 

Wenn ich vertraue. 

 

Ich träumte, ich würde einen menschenleeren betonierten wirklich richtig grauen Platz entlang gehen, auf dem ein einzelner Mann auf mich zukam. Seine Ausstrahlung machte mir Angst. 

Doch um ihm auszuweichen, hoben plötzlich behutsam meine Beine vom Boden ab und ich begann erschrocken in großer Leichtigkeit zu fliegen. Und da gab es diesen Moment wo eine Stimme in mir zu mir sagte: „Gib dich hin. Egal was geschieht. Gib dich hin. Ganz. Gib dich einfach ganz hin.“

Sie sagte es laut und eindringlich und doch sanft ermutigend. Und ich flog. Breitete die Arme, mich, ganz aus und flog. So frei. 

Und erwachte ohne unterscheiden zu können was gerade real ist. 

 

Der Hahn weckte mich morgens um kurz nach halb fünf zum zweiten Mal. 

Irgendwann gegen sechs wurde es langsam hell, die ersten Menschen liefen eilig und zielgerichtet am Haus vorbei, das Leben im Haus erwachte und ich schlüpfte ungesehen zurück in mein Schlafzimmer. 

Die erste wundersame Nacht unter dem Himmel von Kathmandu mit einer innig gefühlten Botschaft liegt hinter mir.

 

Zum Frühstück um 9 gibt es hier Reis und Dal Bhat. Oder wabbeliges Toastbrot mit Erdnusscreme & Honig. 

Zum Mittagessen auch. 

Zum Abendessen wieder. 

Du musst mehr essen mein Kind, würdest du zur Zeit mal wieder zu mir sagen. Und ich würde dir recht geben, etwas angestrengt gucken, da das meist nur mit viel Kuchen und Süßigkeiten geht. Und da ich beides gerade nicht brauche um die Unerfülltheit zu stillen und viel Yoga praktiziere, meditiere, nehme ich ab. So ist das bei mir. 

Seit einiger Zeit bin ich wieder im Fluss gelandet. Süßigkeiten Ade‘. Gewicht auch. Amen. 

 

Mein Wunsch für heute war es, Bodanath zu besuchen. 

Der Platz in Kathmandu, an dem sich die tibetische Gemeinde nach ihrer Flucht aus Tibet weiter ausbreitete. 

Der Platz, der seit vielen Jahrhunderten von buddhistischen Pilgern besucht wird. 

 

Einer meiner großen Wünsche ist es, dort zu sein. 

 

Und so fahre ich mit dem Auto dorthin. 

Kathmandu bei Tag.

Eine verrückte Stadt. 

Wieder all die Autos. Motorräder. Stinkenden Busse. All das Hupen. Die Menschen. Die Verkehrspolizisten die irgendwie dieses röhrend laute Chaos dirigieren. 

Heute mit viel weniger Smog als gestern. 

Erst kurz anhalten und Geld am Automaten holen. 

Dann weiter. 

Inmitten einer dicht gedrängten Häuserzeile, 

Ach was sag ich, inmitten des dicht gedrängten Kathmandus liegt einer der schmalen Zugänge zu der größten buddhistischen Stupa Nepals. 

Ich lasse mich absetzen, überquere mutig und selbstverständlich die mehrspurige, viel zu enge, dicht befahrende Straße, finde den Eingang, zahle 400 Rupien, ca. 3 € für 7 Tage und laufe dankbar langsam auf den Platz. 

 

Stimmengemurmel kommt mir entgegen. 

Und ich sehe. 

 

Sehe die Augen. 

Die Augen die alles sehen. 

Im Außen und vielmehr noch im Innen. 

 

Und ich stehe nur da und spüre diesen Ort. Den Kreis. Die Menschen. Die Düfte. Klänge. Höre die Stimmen, das Murmeln der Mantren. Irgendwo wird gechanted. Höre das Fegen der Strohbesen über das Pflaster, den leisen hölzernen Klang der Gebetstrommeln. Die schlurfenden Schritte. Die energischen auch. 

Das langsame Schreiten. Klackern von Schuhen. Ihr Knarren. Quietschen. Reiben. Schweben. 

 

Hier wird gelaufen. 

Immer rundherum. 

Buddha. Dharma. Sangha. 

 

Hier wird gelaufen und ich stehe. 

Gefühlt ewig. 

Dieser Ort vertieft das Lächeln, das auf meinen Zügen liegt. Dieses feine Lächeln, das aus dem Herzen aufsteigt und aus der Stille des Geistes. Dieses feine Lächeln, das man nicht machen kann und das aus einer auch kindlichen Hingabe und Sanftheit erwächst. Dieses Lächeln, wenn das Zuviel an Schützendem schmilzt. 

 

Ja, so fühle ich mich: voller lang gereifter, kindlicher Hingabe. 

 

 

Stunden verbringe ich hier. 

Laufe. 

Sitze. 

Beobachte. 

Höre. 

Rieche. 

 

 

Sitzen hilft mir die Intensität dieses Ortes ganz aufnehmen zu können. Manchmal zittert es in mir. Das Herz schlägt tief und langsam. Der Körper rauscht ob der vielen Menschen und Eindrücke. 

Sitzen. 

Laufen. 

Sitzen. 

Laufen. 

 

Sehen. 

 

Vom hellen Tag bis tief hinein in die Dämmerung und die lange Nacht der Dunkelheit. 

 

Alles 

sehen. 

Alles. 

Mit lang gereifter, kindlicher Hingabe. 

 

Ich merke meinen Hunger – obwohl ich gut und viel gegessen habe. 

Laufe in ein Seitengässchen. 

Sehe einen Bäcker mit süßen, kleinen Dingerchen. 

Oh ja! 

Das ist jetzt genau das richtige ;). 

Erst eins. Dann noch eins.

Sie schmecken wie unsere Eierkekse, nur in weich.

Sie würden dir schmecken Oma. 

Ich weiß es. 

Für dich getunkt in Kaffee und wir würden reden dabei. 

Ich im roten Sesselchen sitzend, du strahlend mit müden, durchwachten Augen auf deiner kleinen Couch.

 

Oh wie ich es genieße. 

Diese Süßigkeit, die nicht aus Unerfülltheit geschmeckt wird. So frei. 

 

Zurück auf dem Platz, sitze ich auf Treppenabsätzen inmitten traditionell gekleideter tibetischer junger und älterer Frauen. Sie sind so schön. 

 

Und dann schreibe ich. 

Eine meiner ganz nahen Frauen wird ab morgen ihren Yogaweg endlich wieder als Selbständige mutig und entschlossen dem Herzen folgend weiter gehen. 

„Nicht im Kopf, im Herzen liegt der Anfang.“

 

Und da ich meine Karte für sie in Deutschland nicht mehr schrieb, tue ich das jetzt hier. Einen besseren Ort, einen besseren Moment kann es für diesen Segen nicht geben. 

Und als sich auch noch ein kleiner schwarzer Hund vertrauensvoll an meinen Füßen auf der Treppe wo ich sitze niederlässt, hinter mir ein Mönch schon lange ruhig mit mir schweigt und atmet, ist das Leben mal wieder ein Kreis geworden. 

 

Du würdest sie lieben Oma. 

 

Sofort. 

 

 

*

 

 

 

 

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