19. März

18:30  

 

Ach meine große Kleine, 

was würde ich nur geben, 

was würde ich nur geben, um jetzt mit dir hier sein zu können. 

Hier am Begnas Lake am Abend. 

In der Dämmerung. 

Auf der Terrasse sitzend mit weitem Blick über den See. Vor mir bis eben tatsächlich ein feiner Salatteller. Eine wärmende Möhrensuppe. Ein samtig weicher Möhrenpudding mit Nelken und Milch. 

Ach Oma. 

Wie würden wir es beide genießen hier zu sein. 

Die kleine Kerze flackert. 

Die Frösche quacken. 

Die Grillen zirpen. 

Irgendwo am Berg unter mir ist der noch kleine junge Ochse zu hören, der vorhin an meiner Hose zupfte. 

Kinderstimmen höre ich in der Dunkelheit. 

Drinnen Frauen und Männerstimmen. 

Die Schritte der Kellner. 

Und über allem liegt aus der Ferne kommend der weich schwingende Klang einer japanischen Flöte. 

Ich lasse ein Löffelchen des Desserts in meinen Mund gleiten. Beiße auf Kardamom. 

Eine kleine Explosion inmitten aller Samtigkeit. 

Bis hinein in mein Herz. 

 

Ach Oma. 

Wie würden wir es beide genießen hier zu sein. 

 

*

 

 

*

21:00

 

Ach Oma. 

Wie würden wir es beide genießen, zusammen hier zu sein. 

Hier am Begnas Lake. 

15 Kilometer und 90 Minuten mit dem SUV von Pokhara entfernt, weitab der Straße zurück nach Kathmandu. 

Was zuerst fremd & bizarr und deplatziert anmutete, konnte ich nach einem kurzen Erinnern an meinen Traum nehmen.

 

„Gib dich hin, egal was geschieht, gib dich einfach ganz hin.“

 

Dass ich mich ausgerechnet heute daran erinnern müsste, hatte ich nicht erwartet, wenn auch ganz leise vermutet. 

5*****+

Zu spät, um es hier in diesem Land beschämend dekadent zu finden.

 

Ach Oma. 

Wie würden wir es beide genießen, zusammen hier zu sein. 

Du, die du immer immer immer, fast immer, bis an dein Lebensende rechnen musstest. 

Nur, und zugleich so kostbar, die letzten Lebensjahre warst du auch finanziell frei. 

 

Ach Oma.

Wie würden wir es beide genießen, zusammen hier zu sein. 

Dein Sinn für Schönheit & Sinnlichkeit die nichts verlangt, würde dich jeden Moment freudig kosten lassen und dich in dankbare Aufregung versetzen. 

Du würdest mit der gleichen kindlich reifen Freude hier eintauchen wie ich. 

Und alle würden dich mögen. 

Wie immer. 

 

Ja. 

Du konntest genießen. 

Dich freuen. 

Und aus allem etwas machen. 

Aus allem, was das Leben dir gab. 

 

Doch erst am Ende lerntest du, ganz zu nehmen. 

Für dich. 

Ich machte dir Mut. 

Immer wieder. 

Sagte dir immer und immer wieder, dass jeder, wirklich jeder Cent dir gehöre und dass es nicht darum gehen kann, den „Kindern“ etwas zu hinterlassen. 

DU solltest leben, DU solltest es leichter haben. 

Endlich du. 

Inmitten eines Lebens, dass von so vielen großen Toden umarmt war. 

 

2006 gingen wir zusammen auf Reise. 

Im Landcruiser holte ich dich ab. 

Du hattest vorgekocht für Opa. 

Jede einzelne Mahlzeit. 

Alles war gerichtet für dein WegseinDÜRFEN. 

Deine Generation von Frauen musste sich das weggehen noch taktisch klug lanciert „erbetteln“. 

 

Oh, du warst mir eine große Lehrerin – in dem was ich nicht wollte. 

 

2006 

 

Unsere erste und einzige kleine Reise. 

Hoch in den Norden. 

Im statusneutralen, herrlichen SUV. 

Dekadent fand ich das damals nicht und noch immer schlägt mein Herz für diesen Wagen. Das merkte ich, als mir mehrfach unser alter Reisewagen im Mustangtal entgegenkommt. 

Was für ein Gefühl von Freiheit und Abenteuer wir hatten, als du kleine Große dich weit nach oben ins Auto schwangst. 

Alles ruhig mit Abstand und Raum wie ein Adler überblickend ohne wie im Range Rover in eine herablassende Arroganz dem Fußvolk gegenüber zu verfallen.

 

Und wir redeten. 

Stundenlang. 

Zum ersten Mal verbrachten wir soviel Zeit miteinander. 

 

Du erzähltest mir in diesen so vielen kostbar aneinander gereihten Stunden deine ganze Lebensgeschichte. 

5 Tage lang. 

Beim Fahren. 

Beim Pausieren. 

Beim Ankommen. 

Beim Dasein. 

Beim Erleben. 

Abends vor dem Einschlafen.

Beim Abfahren. 

Wir waren Reisende. 

Miteinander durch dein Leben. 

Stundenlang. 

Tagelange. 

Jahrelang. 

In jeder Minute. 

 

Oh du konntest erzählen. 

So, dass ich alles vor mir sah. 

So, dass ich alles spürte. 

So, dass ich das Gefühl hatte, trotz allem, Teil deines Lebens gewesen zu sein.

 

Am Hochzeitswochenende deines letztgeborenen Enkelkindes. 

Was für ein Geschenk. 

Dreimal warst du verheiratet. 

Alle Männer starben. 

Opa Nr. 1 mit 35 Jahren nach 10 Jahren Pflege und schwerer Morphiumabhängigkeit mit all ihren verheerend dramatischen Auswirkungen, 

Opa Nr. 2 mit 43 Jahren, dein 13 Jahre jüngerer, polnischer Cousin. Gestorben bei einem Unfall nach einem Streit auf dem Weg nach Polen. Danach fand dein Leben aufgrund des Schocks lange Zeit im Rollstuhl statt. 

Opa Nr. 3, nach 30 Jahren Ehe mit schwerer Demenz & Depressivität. 

 

Zwei Söhne hast du geboren. 

Der ältere wählte den Tod. 

Der jüngere brach sich das Genick. An. Und die feine perfektionistische Künstlerseele war seit seinem 15. Lebensjahr eine andere. Noch mehr nach innen verstummt. 

Einen Sohn adoptiertes du, denn du warst aufgrund frühzeitiger Lebenserschöpfung schon mit 38 in den Wechseljahren. Und es zeigte sich im Vergleich zu mir als fast gleich altem Baby eine schwere Behinderung. 

 

6 Enkelkinder erwuchsen aus dir.

Nur zwei konntest du nah erleben. 

Mir als deiner Erstgeborenen begegnetest du erst zwölf Jahre später wieder. 

Kurz nach meinem 14. Geburtstag. 

Es war Liebe auf den ersten, bewussten Blick. 

Was bin ich dankbar für diesen alles verändernden Moment. 

 

Geduldig konntest du sein. 

Wenn du musstest. 

Und das Leben es dir hart abverlangte. 

 

Und erfreuen konntest du dich. 

Wenn du durftest. 

An jedem Moment. 

 

Trotz, mit und wegen allem. 

 

Ach, meine Oma. 

Meine große, große Lebens-Lehrerin. 

 

Wie würden wir beide es genießen, zusammen hier zu sein. 

 

 

Der Königsgaukler . Ein indisches Märchen . Von Manfred Kyber 

gelesen von einem Mitreisenden

Teil 5/7

 

 

 

 

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