Bitte nenne mich bei meinem wahren Namen

 

 

Die letzten Tage und Wochen und Monate sind sehr intensiv.

Viele von euch, die hier lesen, wissen, dass ich Ende des Monats meine 3,5 jährige Iyengar-Yogalehrerausbildung beenden werde.

Nach fast 1600 Stunden.

 

Im letzten Jahr hat sich innerhalb meiner Ausbildungsgruppe ein Kreis von Frauen gefunden.

6 Frauen.

Jede ganz anders.

Jede für sich stehend.

Jede mit ihren Themen.

Jede intensiv und kraftvoll. 

Auf ihre Weise.

Mit diesen 6 Frauen gehe ich durch diese letzten Monate, Wochen, Tage.

In inniger Verbundenheit.

Im Bewusstsein der Veränderung.

Im Bewusstsein, dass eine besondere Zeit zu Ende geht.

Abschied. 

„Auch noch im kommendsten Wind atmen wir Abschied.“ 

 

Gerade bin ich zurück von den letzten 5 Ausbildungstagen.

Mit der Prüfungszulassung in der Tasche.

Heute ein freier Tag.

Alles klingt nach in mir.

In Dankbarkeit.

 

Und da erinnerte ich mich.

 

Vor drei Jahren, im Retreat über Silvester, da wo die langjährig erfahren Übenden zusammen kommen um 10 Tage in Stille zu sein, war etwas sehr anders als sonst: 

Irgendwann erklangen in die von 22 Menschen erfüllte Stille hinein leise Worte, Klänge, die nicht von Adriaan als unserem Meditationslehrer kamen. 

Diese Worte, Klänge begleiteten uns durch die Tage. 

 

Jetzt sind sie wieder da.

In mir. 

 

Ich möchte sie mit dir teilen: 

 

 

„Meine Freude ist wie der Frühling.

So warm, dass sie die Blumen auf der ganzen Erde erblühen läßt.

Mein Schmerz ist wie ein Tränenstrom.

So mächtig, daß er alle vier Meere ausfüllt.

Bitte, nenne mich bei meinem wahren Namen!

Damit ich all mein Weinen und Lachen zugleich hören kann.

Damit ich sehe, daß meine Freude und mein Schmerz eins sind.

Bitte, nenne mich bei meinem wahren Namen!

Damit ich erwache!

Damit das Tor meines Herzens von nun an offen steht,

das Tor des Mitgefühls.“

 

 

 

 

Und als ganzer Text:

 

„Bitte, nenne mich bei meinen wahren Namen!
Betrachte es ganz tief:

Jede Sekunde komme ich an,
sei es als Knospe in einem Frühlingszweig
oder als winziger Vogel mit noch zarten Flügeln,
der im neuen Nest erst singen lernt.
Ich komme an als Raupe im Herzen der Blume
oder als Juwel, verborgen im Stein.

Ich komme stets gerade erst an,
um zu lachen und zu weinen,
mich zu fürchten und zu hoffen.
Der Schlag meines Herzens ist Geburt und Tod
von allem, was lebt.
Ich bin die Eintagsfliege,
die an der Wasseroberfläche des Flusses schlüpft.
Und ich bin auch der Vogel, der herabstürzt, um sie zu schnappen.
Ich bin der Frosch, der vergnüglich im klaren Wasser eines Teiches schwimmt.
Und ich bin die Ringelnatter,
die in der Stille den Frosch verspeist.
Ich bin das Kind aus Uganda, nur Haut und Knochen,
mit Beinchen so dünn wie Bambusstöcke.
Und ich bin der Waffenhändler,
der todbringende Waffen nach Uganda verkauft.
Ich bin das zwölfjährige Mädchen, Flüchtling in einem kleinen Boot,
das von Piraten vergewaltigt wurde
und nur noch den Tod im Ozean sucht.
Und ich bin auch der Pirat,
mein Herz ist noch nicht fähig, zu erkennen und zu lieben.
Ich bin ein Mitglied des Politbüros
mit reichlich Macht in meinen Händen.
Und ich bin der Mann, der seine Blutschuld an sein Volk zu zahlen hat
und langsam in einem Arbeitslager stirbt.

Meine Freude ist wie der Frühling.
So warm, daß sie die Blumen auf der ganzen Erde erblühen läßt.
Mein Schmerz ist wie ein Tränenstrom.
So mächtig, daß er alle vier Meere ausfüllt.
Bitte, nenne mich bei meinem wahren Namen!
Damit ich all mein Weinen und Lachen zugleich hören kann.
Damit ich sehe, daß meine Freude und mein Schmerz eins sind.
Bitte, nenne mich bei meinem wahren Namen!
Damit ich erwache!
Damit das Tor meines Herzens von nun an offen steht,
das Tor des Mitgefühls.“

 

Thich Nhat Hanh