Sterben V oder: Werden wie ein Kind

 

 

Wer mich etwas länger kennt, weiß, dass ich einfach nur gerne so rumsitze und schaue. Rumsitze und das Leben beobachte. In mir und um mich herum. 

 

Besonders gern beobachte ich Kinder und folge ihrem Ausdruck, ihren Handlungen mit allem was sie sind. 

Soviel Ausdruck. 

Soviel Eindeutigkeit. 

Soviel Gefühl. 

Soviel Mut. 

Soviel Neugierde. 

Soviel Staunen. 

Soviel Ausprobieren.

Immer wieder.  

Soviel im Moment sein ohne Konzept im Hintergrund. 

Soviel Ehrfurcht dieser kleinen Menschen vor uns großen Menschen. 

Soviel Liebe ohne zu wissen was Liebe ist. 

Soviel Vertrauen. 

Soviel Unschuld. 

 

Vielleicht schaue ich ihnen besonders gern zu, weil das Leben mir zwar fünf Schwangerschaften schenkte, doch die kleinen sich entfaltenden Wesen nicht blieben (10 Jahre Traurigkeit, 10 Jahre keine Schwangeren sehen können, 10 Jahre kleine Kinder meiden, 10 Jahre Rückzug und noch immer manchmal, wenn auch selten das Gefühl, nicht dazuzugehören zu den Menschen von denen die meisten Eltern sind) und ich irgendwann die enorm schmerzhafte Entscheidung traf, mein Leben ohne die Fürsorge für eigene Kinder zu verbringen.  

Ja, ich liebe Kinder, jedes Einzelne und dank ihnen zeigte sich vor einigen Jahren einer meiner ganz großen Lebenswünsche, nämlich der, wieder wie ein Kind zu werden. 

Ja. 

Ich möchte immer mehr in eine erwachsene Kindlichkeit hinein reifen.

Das ist mein Wunsch. 

 

Ich bewundere an Kindern neben allem was sie uns schenken, auch ihre Fähigkeit,

ihre Gefühle zu erleben und meist sofort Ausdruck zu verleihen. 

 

Irgendwann kam mir der Gedanke, dass, wenn wir als Erwachsene auf reife Art und Weise unsere Gefühle in dem Moment wo sie aufkommen, durchleben, durchstehen, erleben, erfahren und nicht wegdrücken mit Aktionismus, zuviel Leistung, zu schnell Auto fahren, zu oft einkaufen gehen, zu viel Essen, zu viel Alkohol, zu viele Drogen, Unmengen an Filmchen schauen, zu viel Sport, zu viel seelenloser Sex, zu viel Schokolade, zuviel abgeschnittener Rückzug usw., sondern wenn wir das was aufkommt wirklich durchleben, erleben, erfahren, dass sich dann nichts neues mehr als in uns Lastendes anhäuft und ein enormes Gefühl von Freiheit wachsen könnte. 

Das war meine Vermutung.

Das war seitdem mein Wünschen. 

Ja. 

Im Fluss einer gereiften, erwachsenen Kindlichkeit mit allem was ist zu leben, ist seit Jahren mein heimlicher Wunsch. 

Egal ob Freude, Glück, Traurigkeit, Zorn, Wut, Scham, Unbeschwertheit.  

Alles sofort im Moment des Aufkommens fühlen und ganz damit zu sein – ohne mich darin zu verfangen.  

 

Vor ca. 2 Jahren war es soweit, dass ich klar und eindeutig erfuhr, dass dieser Wunsch kein phantastischer, zusammengedachter Hokuspokus ist, sondern möglich. 

 

* * * * * * *

 

Adriaan und ich saßen während einer Retreatzeit am Esstisch.

Es gab einen kurzen geflüsterten Austausch zwischen uns, der ob einer Phase angespannter Neuorientierung zwischen uns Beiden, einiges an Ladung in sich barg und ob der ziemlich überraschenden Intensität die von uns mit feiner Mimik und Gesten gefüttert wurde, sofort in mich eindrang. 

Unmittelbar schoßen mir die Tränen in die Augen und mein erster Gedanke war: jetzt bloss nicht noch weinen. Hier um Essraum mit 20 Menschen um mich herum.

 

W e g d r ü c k e n. 

 

Und eine innere Flucht- und zugleich Kampfhaltung breitete sich aus. 

Ich bemerkte sofort wie mit dem Wegdrücken mein Atem stockte. Der Bauch hart wurde. Verengung und Bedrängung sich im Körper ausbreitete. Ich mich zuerst aufrichtete, dann zusammenzog und dann klein wurde auf meinem Stuhl. 

Und hielt inne. 

Nein. 

Ich wollte nicht eng werden. Ich wollte nicht klein werde. Ich wollte mich nicht beschneiden. 

Ich wollte fühlen was gerade geschieht.

Jetzt. 

Sofort. 

Und nun hier, jetzt, an diesem Esstisch sitzend im Retreatspeiseraum mit 20 Menschen um uns herum, bin ich wach genug um nicht weiter in die Enge zu gehen. 

 

* * * 

 

Also sitze ich, die Füsse am Boden, den Po auf dem Stuhl spürend, die Lehne halt gebend im Rücken, und lasse mutig geschehen, dass die Tränen aufsteigen und sich das intensive Gefühl von Zurückweisung und Ungerechtigkeit und Ohnmacht in mir ausbreitet. 

Spüre die Erschütterung in mir, in meinem Herz, in meinem ganzen Körper bis in die Zehenspitzen. Und ich bleibe bei den starken Körperempfindungen während langsam die warm quellenden Tränen meine Wange hinunterlaufen. Ja. Frei von weinen laufen sie. 

Und ich bleibe mit der Hitze, der Spannung, dem Druck, dem Aufsteigen, der Enge, dem Ziehen im Herz. 

Ich bleibe einfach sitzen. 

Den Kopf leicht gesenkt.

Und spüre.

Die Tränen. 

Das Überlaufen.

Die Spannung.

Den Druck.

Das Aufsteigen. 

Die Enge. 

Das Ziehen im Herz. 

Die Gedanken, die urteilen wollen.

Nicht einsteigen. 

Ich spüre.

Die Tränen. 

Das Überlaufen.

Die Spannung.

Den Druck.

Das Aufsteigen.

Das Sinken.  

Das Ziehen im Herz. 

Ich spüre. 

 

J e t z t  

 

Mich.

Ganz.

Mit allem ganz. 

 

Es dauert ungefähr 2 Minuten.

2 Minuten!

2 lange Minuten intensiver Körperempfindungen. 

2 lange Minuten intensivstes Sein.

G A N Z  vom Moment erfasstes Spüren. 

Ohne einzusteigen.

Nur spüren.  

Dabei bleiben. Nicht wegducken. Nicht wegrennen.

Erleben. 

 

Zwei Minuten später ist die enorme Erschütterung durch mich hindurchgezogen.

Zwei Minuten.  

Nur zwei lange Minuten!

Meinen Blick gesenkt, hebe ich ganz langsam meinen Kopf und schaue Adriaan in seine mich suchenden Augen. 

Ich spüre die Spuren der Tränen in meinen Augen, ihre Weite. Ihre Klarheit. Ich spüre ihr helles Blau. Ich spüre ihre sanfte Kraft.

Ich spüre meine sanfte Kraft.  

Alles in mir strömt und strahlt. 

Die bedrängende Enge ist in einen tiefen weiten Frieden gemündet. 

Ich schaue ihn an.

Frei.

Im hellem Blau des klaren Himmels. 

Ohne Vorwurf. 

Ohne Ladung.  

Es ist nichts mehr da von dem was gerade war.

Ich lächle.

Tief aus mir heraus geschieht dieses Lächeln. 

Unbesetzt und warm wie ein sonniger Frühlingstag.

Geöffnet wie eine Muschel. 

„Der Schmerz ist das Aufbrechen der Schale die das Verstehen umschließt. So wie der Kern der Frucht aufbrechen muss, damit sein Herz die Sonne sehen kann, musst auch du den Schmerz erleben.“

Was war ist vorbei.

Weggezogen.

Ohne Spuren zu hinterlassen.

G a n z  neu. 

 

Und in mir breitet sich die still jubelnde Gewissheit aus, dass es möglich ist, alles zu fühlen was gerade geschieht. 

Meine Ahnung, mein Wünschen, meine Hoffnung ist kein Hirngespinst. 

Ich kann wieder werden wie ein Kind. 

Alles fühlen.

Sofort. 

Und nichts mehr anhäufen. 

Das ist mein Weg. 

Nun erst recht. 

 

2023 im Juli 

Ich sitze im schmalen Küchengang von Haus Tabor, unserem Retreathaus. 

Sommerretreatzeit. 

Das stumme Telefon in der Hand. 

Die brüchig schmerzvolle müde Stimme auf der anderen Seite verklingt. 

 

*

Petra, meine Petra stirbt. 

*

 

Und die Tränen laufen.

Laufen und laufen.

Sie laufen.

Sie laufen beim Sitzen, sie laufen beim Laufen, sie laufen im Saal, sie laufen in der Küche, sie laufen beim Umarmtwerden. Sie laufen beim Tasche packen und sie laufen im Bett liegend und sie laufen in den Schlaf findend.

Eine dunkle tief durchschlafene wache Nacht. 

Morgens 4 Uhr.

Ich erwache mit hellblauen Augen

Ich spüre die Spuren ihrer Tränen, ihre Weite. Ihre Klarheit. Ich spüre ihr helles Blau. Ich spüre ihre sanfte Kraft.

Ich spüre meine sanfte Kraft.  

Alles in mir strömt und strahlt.

Mein Herz weit und warm pulsierend. 

Friedlich.  

Die große Traurigkeit, das Meer von Tränen aus der Gewissheit des Abschieds ist in einen tiefen Frieden gemündet. 

Frisch.

Wach. 

Klar. 

Mein Körper strahlt und strömt. 

Alles in mir strahlt und strömt.  

Ich strahle und ströme. 

In großer Vorfreude auf Petra. 

 

Bereit da zusein. 

Bereit, mit ihr zu sein.

Mit ihr, mit ihren Schmerzen, mit dem Sterben und dem Tod. 

Mit mir zu sein. Mit meinen Schmerzen, mit meinem Sterben und meinem Tod. 

 

Zeit des Abschieds. 

 

Da ist nur noch Vorfreude auf die uns verbleibende gemeinsame Zeit.

Da ist nur noch tiefe Dankbarkeit für Petra und mein bei ihr sein können und so steige ich in das Auto und rolle die 600 Kilometer Richtung Brandenburg, hin zu einem orangenen Haus mitten im Spreewald. Dorthin wo eine lebensfrohe, tiefsinnige und mutige Frau die nächsten 8 Tage alles alles alles fühlt und sich mit jeder neuen letzten Stunde die sich in Zeitlosigkeit auflöst, entschlossen und sanft dem Tod ergibt. 

 

 

Lebendig sein heißt alles fühlen. 

Auch das Sterben.

In jedem Moment Leben.  

J e t z t