Sterben I oder: Eine lebenswichtige Frage

 

Ich praktiziere nun, wo mein Leben nach fünf Monaten ohne eigenes festes Zuhause, einer vierwöchigen Reise nach Nepal und vier Monaten des ganz langsam Landen in meiner persönlichen Quadratur des Kreises, an einem einzigen Lebensmittelpunkt ankommt, endlich wieder jeden Tag Yoga. 

(Was´n schachteliger Satz, doch ich lass ihn stehen. Trainiert;) und später, fast am Ende, kommt noch einer!

Jeden Tag Yoga als Praxis.

 Yoga-Asanas wie auch das stille Sitzen der Vipassana-Meditation. 

Morgens.

Abends. 

Meist allein und Asanas auch immer wieder mit einem meiner Yogalehrer. 

 

Die unbekümmerte Art meines Yogalehrers mit seiner jungenhaft, freudigen, verspielten und fordernden Weise zu unterrichten, war mir gerade in den letzten Wochen ein großer Segen. Das Üben schenkte mir verwurzelte Leichtigkeit in Zeiten des Sterbens. 

Denn am dritten Tag unserer 19-tägigen Sommerretreatzeit im Juli/August erreichte mich  d e r  Anruf einer meiner ganz, ganz nahen Frauen. 

Petra . 63

Seit 20 Jahren sind wir befreundet. Eine langsame Annäherung zwischen zwei Frauen die bei ihrer Begegnung sofort voneinander wussten, dass zwischen ihnen etwas reiches entstehen könnte.

Während ich im März für vier lange Wochen nach Nepal reise, kommt sie mit der Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs und einer in Deutschland sofort eingeleiteten Notoperation von ihrer 14-tägigen Kubareise zurück.

Plötzlich ist alles anders. 

Alles. 

 

Doch auf die folgenden intensiven Monate mit all den mutigen Entscheidungen, möchte ich heute nicht weiter eingehen. Nein. 

Es geht mir um etwas anderes.

Es geht mir um eine Beobachtung, die ich gerne teilen möchte. 

Es geht mir um eine wesentliche Frage, an der wir, so meine ich, die Wirkung unserer Praxis von Yoga & Meditation ablesen sollten.

Die vielleicht etwas konfrontierende Frage ist folgende: 

 

*

Können wir in Frieden am Bett einer Sterbenden sitzen?

*

Bereit und immer mehr in der Lage, das Gehen müssen ohne anzuklammern zu unterstützen? 

Können wir den Weg des Rückzuges aus diesem Leben hier erleichtern und in Liebe begleiten, statt mit Leiden zu beschweren?  Oder sind wir in der Lage, unsere reine Angst, unseren nahenden Verlust, unseren Schmerz zu spüren und dadurch langsam in Sein zu verwandeln? 

Ja. Das ist meine Frage. 

 

*

Können wir in Frieden am Bett einer Sterbenden sitzen?

*

Bereit alles was aufkommt zu fühlen. Mit allem was da ist zu sein. 

Oder ist unsere Angst vor dem Tod so groß, dass wir sagen: Ich gehe nicht mehr hin, denn ich möchte sie so in Erinnerung behalten, wie ich sie kannte. 

Diese schon so oft gehörten Worte sind zutiefst menschlich. 

Diese schon so oft gehörten Worte sind zutiefst unmenschlich.

Ja. Um diese Frage geht es mir!

 

*

Können wir in Frieden am Bett einer Sterbenden sitzen?

*

 

Ich glaube, diese Fähigkeit, dieses Geschenk der friedlichen Begleitung am Ende eines Lebens, ist eines der größten, das wir einander machen können und in das wir, dank unserer spirituellen Praxis hinein reifen.  

Und ich bin unendlich dankbar für meinen Lebensweg und meine Ausrichtungen, die machen, dass sich in mir in großer Demut und über mich selbst staunend immer mehr diese Fähigkeit zeigt. 

Auch dank Petra und der enormen Ehre, sie begleiten zu dürfen.

Die vierte Begleitung eines nahen Menschen im Sterben. 

Ja. 

 

Die letzten 10 Tage ihres Lebens war ich bei ihr. 

War ich bei ihrem Sohn. 

War ich bei ihrem Mann.

 

War ich  m i t   Petra.

M i t  ihrem Sohn. 

M i t  ihrem Mann. 

Bis zum Ende und darüber hinaus. 

Und ich erntete für mich, für uns drei und all die sie ein letztes Mal Besuchenden, die Segnungen meiner Praxis.

Was bin ich dankbar dafür!

Ich erntete sie auch dank des in dieser Zeit täglichen genutzten Unterrichtes meines Yogalehrers. Verwurzelte Leichtigkeit in Zeiten des Sterbens. 

Was bin ich ihm dankbar dafür!

*

Denn ich konnte Sein. 

Mit allem sein, was dieses Leben an seinem Ende zeigte. 

In Frieden Sein. 

*

Der tägliche Yogaunterricht und mein Sitzen können gaben mir die Kraft und Stabilität und die Sensibilität, um völlig in eigenem Frieden mit Petra zu sein. 

Lächelnd. Lachend. Still. Lauschend. Sinnend. Genießend auch. Berührend. 

Genährt.

Genährt durch uns beide. Durch die Tiefe, Nähe und Weite zwischen uns.

Genährt durch uns drei, Sohn, Mann und mich und unser Zusammenspiel. 

 

Ich konnte die vielen, vielen Stunden und Tage an ihrem Bett sitzen und ganz wach, präsent und entspannt mit ihr und ihrem letzten Weg und mit ihren enormen Schmerzen sein.  

Ja, ich konnte neben ihr sitzen und nichts tun.

Konnte still neben ihr sitzen, in dem Wissen, nichts anderes von mir schenken zu können, als da zu sein. 

Nah bei ihr zu sitzen in großer Zuneigung, in warmer Liebe. 

Tief verbunden.

Friedlich. 

Eins. 

 

Kein Handy. Keine Musik. Nichts lesen. Nichts schreiben. Keine Ablenkung.

 

Nur sitzen & zusammen sein.

Ohne das irgendetwas geschieht. 

 

Sitzen.

Schauen.

Lächeln. 

Zuhören. 

Schlafen. 

Weiter sitzen. 

Spüren. 

Sprechen. 

Essen.

Trinken.

Sitzen. Noch immer. Schauen.

Lauschen.

Fühlen.   

Nichts tun.

Da sein. Ganz da sein. 

Atmen. 

*

einfach nur sitzen

*

Es reicht.

Es hilft. 

Es beschenkt. 

Es beschenkt ohne Tun. 

*

Während ich so sitze, bei ihr sitze, den Atem spürend, mich spürend, sie spürend, bemerke ich, dass mein eigener Frieden sich auf sie verströmt und sie in ein ganz mildes, zartes Lächeln bringt und die Verwebungen mit den phasenweise unerträglichen Schmerzen immer wieder neu erträglicher werden. 

Während ich so sitze, den Atem spürend, mich spürend, sie spürend, bemerke ich dass, wenn Menschen neu in den Raum kommen, die mit ihrer schnellen Alltagsgeschwindigkeit, all den zu tuenden Dingen im Kopf, mit der Situation des Sterbens überfordert, mit Petras offensichtlichen Veränderungen überfordert, mit sich und dem Nichtstun können überfordert, suchend nach Aktivität, belastet sind, wie diese Dysbalance im Außen sich in Petra legt, wie es sie bedrängt und schneller in ihre Schmerzen verwebt. Ihre Unruhe zunimmt. Eine Enge in ihrem sowieso schon sehr beschwerten Atem und auch in ihren Augen entsteht. 

Ja. 

Alles überträgt sich. 

Das eine wie das andere auch. 

Denn wir sind alle miteinander verbunden. 

Mehr als wir denken.

Mehr als wir glauben. 

 

Und wir wirken. 

Unser Dasein wirkt. 

Ständig.  

Was bewirken wir mit unserem Dasein? 

 

*

Können wir in Frieden am Bett einer Sterbenden sitzen?

*

Bereit und immer mehr in der Lage, das Gehen müssen ohne anzuklammern zu unterstützen? 

Können wir den Weg des Rückzuges aus diesem Leben hier erleichtern und in Liebe begleiten, statt mit Leiden zu beschweren?

Ja. Um diese Frage geht es mir!

Können wir das? 

 

 

I n   d i e s e s   K ö n n e n   s o l l t e   u n s   u n s e r e   s p i r i t u e l l e   P r a x i s,   

e g a l   w e l c h e r   W e g,   

f ü h r e n . 

Um den verneinten Tod,

um das verbannte Sterben wieder mitten hinein in unsere Leben zu holen.

In die Küchen.

In die Wohnzimmer.

In die Schlafzimmer.

Die Gästezimmer.

In unsere Häuser. In unsere Wohnungen. 

 

M i t t e n   h i n e i n

 

i n   

d i e 

F a m i l i e n  

 

 

a u s   L i e b e

 

 

D e n n   w i r   w e r d e n   w e d e r   a l l e i n   g e b o r e n.

N o c h   s o l l t e n   w i r    a l l e i n   u n d   u n b e h ü t e t   s t e r b e n.