07. März

 

4:00

 

Meine große Kleine, 

Ich liege wach. 

Ganz still ist diese letzte Nacht heute hier im Norden Kathmandus im Balkonzimmerchen, 

So still, dass es fast schmerzt in den Ohren.

Kein Hund bellt. 

Kein Mensch ist zu hören. 

Kein Baby niest. 

Keine Schritte im Haus oder irgendwo in der Nacht. 

 

Einige Stunden schlief ich tief, fest, traumlos. 

Dann kamen die Jungs zurück vom Holifestfeiern in Thamel, dem Touristenviertel in der Innenstadt, wollten noch eine Rauchen und stellten fest, das da tatsächlich „jemand“ liegt und schläft. 

 

Du lagst auch oft nachts wach. 

Und immer öfter standest du dann auf, setztest dich im Morgenmantel auf deine kleine Couch und maltest. 

Adriaan hatte mir mit einem Geschenk einen aus meiner Sicht unerfüllbaren Wunsch erfüllt: 120 FaberCastell Polychromos Buntstifte im HolzKasten. Und bei einem meiner vielen Besuche brachte ich ihn so dankbar mit zu dir. 

Oh wie deine Augen leuchteten. 

Wie deine Hände über die Stifte und über das Holz strichen. Du konntest dich so aufrichtig mitfreuen. 

Und in dem Moment war klar, was ich dir schenken würde und so kam ich auf die Idee, dir diese Stifte mit ihren intensiven Farben zu kaufen und dazu die berührend schönen feinen Malbücher von Johanna Basford. 

 

Das war so ein Segen. 

Was bin ich dankbar dafür, noch heute, dass wir diese Möglichkeit durch Adriaan entdecken konnten. 

In den langen langen Nächten sitzt du also auf deiner Couch und malst, malst aus voller Hingabe.

Du schläfst nicht, weil die Albträume dich quälen oder der Körper einfach zu sehr schmerzt. Du hast mehrere Wirbelkörpereinbrüche, nimmst dauerhaft morphinhaltige Medikamente, bist immer kleiner geworden. 

Ja. 

Meine große Kleine. 

1,52 m. 

Deine Größe ist deine Fröhlichkeit. Deine Verzweiflung. Deine immer wiederkehrende Zuversicht. Dein Mitgefühl und dein Verstehen. 

Deine große Tapferkeit. 

Dein sanfter Willen. 

Dein Ringen um Freiheit. 

 

Einer dieser Einbrüche hatte dazu geführt, dass du allein lebst und du die letzten Jahre deines Lebens allein verbringen, ich formuliere es vorsichtig, allein verbringen darfst. 

Mit den Jahren war Opa, dein dritter Mann, immer härter, enger, eckiger, kontrollierender und dementer geworden. 

Was hast du gegeben für ihn. 

Und als er wieder einmal stürzte und du ihn wieder einmal aufheben wolltest, brachen zwei Wirbelkörper in sich zusammen. 

Krankenhaus. 

Lange. 

Opa allein ging schon viel länger nicht mehr. 

Also folgte Kurzzeitpflege aus der ein Wohnen im Heim wurde. 

Und du wolltest, solltest allein weiterleben. Können. (Was das an Verwicklungen in der Familie brachte braucht nicht geschrieben zu werden.) 

Im Betreuten Wohnen. Eigenständig in einer kleinen Wohnung. Alle liebten dich, sahen und spürten deine Größe. 

 

Doch in den langen Nächten warst du allein mit dir und irgendwann mit deinen Stiften, die deinen Schmerz auf dem Papier in Harmonie und Schönheit verwandelten. 

Verwandlung durch malen. 

 

Ich besitze all deine Malbücher. In ihnen wohnst du noch heute. Wie viele Stunden Tage Woche deine Hände über das Papier glitten. 

Ja, in ihnen begegne ich dir. Sie sind in eine Tüte gehüllt und manchmal öffne ich sie und dann duftet es. 

Nach dir.

 

 

 

Der erste Hahn kräht.

4.18 Uhr. 

Oje. 

5.30 klingelt der Wecker. 

6 Uhr Frühstück. 

6.30 los zum Bus. 

 

Es geht zu viert samt Guide nach Pokhara. Einer im Inland gelegenen Stadt von der aus wohl die meisten Trekkingtouren starten. 

 

 

Mmh. 

Noch eine Stunde. 

Yoga üben oder ruhen? 

 

*

 

 

 

7 Uhr Abfahrt 

8 Stunden im Bus 

Die Touristenvariante.  

Plüschsessel & Klimaanlage. 

200 km durch die Berge. 

Kurven Kurven Kurven. 

Eine Schotterstraße von Kathmandu immer kurvig geradeaus. 

 

KURVEN. 

 

Höchstgeschwindigkeit in Nepal 50 km/h

Vorbeiziehen lassen. 

Alles. 

Die bunten staubigen Häuser. Die Straßenhunde. Die Wäsche waschenden Frauen mit ihren Schüsseln und dem vielen Seifenschaum. Die Affen. Die Palmen. Die terrassierten Felder. Die vielen Hochzeiten an diesem wohl guten Tag zum Heiraten. Die Menschen auf den Feldern. Der feine Sand der die Luft durchdringt. 

Feiner rötlicher Sand. 

Überall. 

 

Und auch überall: Wäscheleinen. 

Wäscheleinen mit all der bunten Wäsche darauf. Irgendwie drüber geworfen.

Ich liebe die Wäscheleinen in diesen Ländern. 

So frei. 

In Deutschland hängen wir alles so furchtbar ordentlich auf. Ich hatte mal ne Freundin die nutzte die farbigen Wäscheklammern entsprechend einer Kleidungskategorie. Oder steckte Klammern entsprechend der Wäschestückfarbe. 

Halleluja sag ich da nur. 

 

8 Stunden sitzen. 

8 Stunden atmen. 

Mich 8 Stunden lang durchschütteln lassen von all den Schlaglöchern und ich nenne es mal vorsichtig ausgedrückt Wellenerhebungen 😉 der Straße. 

Einige Male hebt sogar mein Hintern ab vom Sitz. 

Ich muss dann laut lachen. 

 

Atmen hilft. 

Bei allem. 

 

Wenn ich alles ganz weich halte, keinen Widerstand aufbaue bleibt es leicht. Trotz für einige Minuten aufwallendem Magendruck. 

Immerhin nur einige Minuten von 8 Stunden! 

 

8 Stunden atmen. 

Im Atem ruhen. 

 

Und immer wieder erstaunt es mich, dass, wenn ich auf Reisen bin und weder lese noch Musik höre oder mich unterhalte, sondern nur atme, mich spüre mit allem was aufkommt, sich das Zeitgefühl auflöst. 

Es ist ein Reisen wirklich von Moment zu Moment mit jedem Atemzug neu. 

Und wenn ich ankomme, dann gibt es keine Zeit zwischen abfahren und ankommen und ich muss mich anstrengen zu erinnern wo ich vor 8 Stunden noch war. 

In Kathmandu. 

 

Ja, ich bin angekommen. 

In Pokhara. 

Eine Nacht im Mondlicht-Hotel. 

Die Touristenvariante. 

Ach Balkonzimmerchen, ich kann dich hier nicht finden. 

 

Wo bist du? 

 

 

*

 

 

 

 

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