Ein Brücken/Lückentag im warmen Oktober.
Allein sitze ich auf der grünen Bank unter der alten Eiche.
Hier bei Haus Tabor, unserem Retreatort.
Dort wo wir immer wieder neu die Menschen, die zu uns finden, zu sich und in ihre ganz eigene Stille führen. Geschützt. Behütet. Getragen.
Niemand ist hier.
Ich bin seit gestern schon allein mit dem das Haus führenden Herrn Amrein, das in Einzelzimmern 23 Menschen Raum bieten kann.
Anders als gedacht bin ich schon viel eher gelandet – bevor Mittwoch die Menschen anreisen.
Ein vom Leben und Körperchen geschenkter Montag des Ausruhens und Nichtstun.
Allein sein.
Schlafen. Atmen.
Dem Wind in den Herbstblättern der alten Eiche zuschauen. Ihr Fallen spüren.
In mir.
Erinnerungen.
Ungefähr 10 Wochen ist es nun her, dass wir letztmalig hier waren.
Unsere Sommerretreatzeit im Juli und August.
20 Menschen sind für das erste von drei aufeinanderfolgenden Retreats angereist. Der zweite lange Tag in Stille neigt sich dem Ende.
Nach dem Beugen und Strecken der Glieder angeleitet durch mich, gibt es nun 18 Uhr Abendessen. Zusammen löffelt jedeR für sich allein schweigend ihre warme, cremige Suppe.
Das ist oft die Zeit, in der ich zur Dion, unserem Koch, in die Küche gehe und mal auf mein Handy schaue. Schaue, ob irgendetwas anliegt das dringlich sein könnte.
Ja.
Das dringlich sein könnte und zeitnahe Beantwortung braucht in diesen stillen Tagen.
Ein Anruf ist zu sehen.
Überraschend. Denn meist ruft mich während unserer Retreatzeit niemand an.
Ja.
Ein Anruf ist zu sehen.
Ein Name.
Und in mir zieht es sich sofort zusammen.
Mein Herz sticht.
Petras Namen ist zu lesen.
Petra.
Sofort breitet sich eine Ahnung in mir aus.
Die Ahnung, dass die Waage sich geneigt haben könnte.
Ich sage Adriaan, dass ich dringend telefonieren müsse. Baue vor, dass es länger dauern könnte.
Gehe in den kleinen Küchengang des Nachbarhauses dieser drei ganz nah beieinander stehenden Häuser, die miteinander verbunden sind.
Setze mich.
Atme.
Erst einmal einige Minuten nur sitzen.
Die Füße spüren. Meinen Po.
Meinen Körper.
Mein Herz.
Alles.
Und Atem.
Die Hände auf den Bauch gelegt, die Augen geschlossen, sitze ich minutenlang und sammle die Kraft für das was kommen wird.
Petra.
Ich wähle.
Da ist sie.
*
Ich bin es.
*
Ach meine Kati.
*
Höre ihre Stimme, ihren Klang
Und weiß sofort, dass ich meine Ahnung Realität ist.
Gebrochen klingt sie.
Voller mühsamer Kraft.
Und zugleich leuchtet sie, als sie mich hört.
*
Es geht nicht gut Kati.
Jetzt ist es klar.
Ich sterbe.
*
Wie lange hast du noch?
*
Nicht mehr lang.
*
Schon während ihrer Worte beginnen meine Tränen überzulaufen. Einfach so – ohne zu weinen. Es tränt aus mir.
*
Ich sage: Petra mir laufen die Tränen.
Das muss jetzt landen in mir.
*
Ich weiß Kati. Ich weine auch. Die Waage hat sich geneigt.
*
Tränen laufend, sammle ich mich.
*
Ich werde kommen.
Morgen früh.
*
Oh, Kati das kann ich nicht von dir erwarten. Ihr seid im Retreat.
*
Ach Petra, natürlich komme ich zu dir.
Was denn sonst?
Glaubst du denn, ich lass dich allein?
*
Ich will keine Last sein.
*
Bist du nicht!
Da ist nur Liebe.
Morgen früh ganz zeitig werde ich losfahren. Am frühen Nachmittag werde ich bei dir sein.
*
Bist du dir sicher?
Würdest du das wirklich tun?
*
Da gibt es keine Frage Petra.
N a t ü r l i c h .
*
Wir legen auf.
Und ich bleibe zurück in dem schmalen Küchengang hin zu den Zimmern 15 und 16.
Sitze am Küchentisch unter dem Hohelied der Liebe
Und sinke zusammen.
Meine Unterarme aufgestützt, meinen Kopf auf die Unterarme gelegt, weine ich.
Ich weine
und weine
und weine.
Ich weine.
Ich weine so bitterlich über lange, lange Zeit und spüre die Last des Lebens und das Annehmen des Sterbens. Ich spüre den Abschied. Die verlöschende Hoffnung auf Leben. Das Aufgeben. Das Annehmen. Das Loslassen.
Eine meiner ganz nahen Frauen, Petra, wird sterben. In diesen warmen Sommertagen, im Hospiz oder in ihrem Zuhause im Spreewald.
Petra, meine Petra stirbt.
Und ich weine
und weine
und weine.
Ich weine.
Tränen.
So viele Tränen.
So ein großer Schmerz.
So viele Tränen.
Irgendwann stehe ich auf.
Still unter Menschen sein sagt mein Herz.
Laufe hoch zum Meditationssaal. Stelle meine Schuhe vor die Tür. Laufe lautlos hinein. Setze mich auf meinen Platz vor die Gruppe. Neben Adriaan.
Er schaut mich an.
Und weiß sofort bescheid.
Ich nicke.
Seine Hand legt sich warm und beruhigend auf mein Knie.
Sitzen.
Atmen.
Atem spüren.
Die Traurigkeit spüren.
Die Bewegtheiten im Körper.
Das Ziehen in meinem Herz.
Atmen.
Und die Tränen laufen lassen.
Laufen laufen laufen
immer weiter laufen
geschehen lassen
Jeden Moment geschehen lassen.
Aus einem endlosen Meer laufen die Tränen.
Dort sitzend vor 20 Menschen an einem Freitagabend im Juli.
21 Uhr.
Bettzeit für die Praktizierenden.
Wir verlassen den Saal.
Adriaan und ich gehen in die Küche. Unser Ort für Austausch. Für naschen und Zusammensein mit Dion unserem Koch. Hier reden wir mitten im Schweigen um uns herum.
Die Tür schiebt lautlos zu hinter uns.
* Bitte nimm mich in den Arm *, sind meine Worte.
Und er nimmt mich in seine warmen, starken Arme, ich lehne mich an ihn und all die stetig aufsteigenden Tränen wandeln sich neu und nun ganz warm gehalten in ein tief tief bitterliches Weinen. Ein tiefer klagender Schmerz des Abschieds, der aus meinem Herz rau in meine Kehle steigt und sich Raum nimmt.
Zeit des Abschieds.
Petra, meine Petra stirbt.
Lange stehen wir so bis ganz langsam die Spannung aus meinen Körper weicht. Bis das bitterliche Weinen verklingt. Die Tränen versiegen.
Bis besonnen und neu gesammelt Planung geschehen kann.
Ich werde das Retreat am kommenden frühen Morgen verlassen.
Werde reisen in die Gewissheit des Sterbens und die Ungewissheit meiner Rückkehr.
Ich werde gehen.
Zu Petra.
Die nun geht.
Weg aus diesem Leben hier.
*
Was ist die Liebe?
Fragte einmal ein alter Mönch die anwesenden Gäste und ein großes Ufern begann.
Irgendwann, nachdem die Worte versiegten, sprach er:
Ja, ihr habt recht, all das ist die Liebe.
Und:
Es ist das da sein.
Für die Liebe musst du als
a l l e r e r s t e s
d a s e i n.