Tage wie dieser oder: Fensterbankzeit

 

Unsere Herbstretreatzeit ist Zuende gegangen. 

Spät am Abend nach einer langen und langsamen Reise war ich zurück in Dresden. 

Nach jeder Retreatzeit nehme ich mir auf jeden Fall einen, in der Regel zwei, besser noch drei freie Tage. 

Tage des Ausklingens. 

Vorüberziehens.

Mein Spürfeld schrumpfen lassen von 40 Menschen der vergangenen 16 Tage auf mich ganz allein.

Lücken- oder Brückentage.

Nicht immer leicht.   

 

Dafür braucht es Stille.

Und nichts tun. 

Stilles Nichtstun. 

Nur sein. 

Frei von Willen und Wollen nur dem folgen was als tiefer Impuls aufsteigt. 

Sorge tragen nach diesen langen Tagen des Dienens.

Sorge tragen.

Sorgen. 

Für mich. 

 

Ich entscheide mich, kurz vor Mitternacht, meine Decke zu nehmen und in meinem Gästezimmer zu schlafen.

Ein klarer umhüllender Raum, umhüllend anders als mein Zimmer, das, genau auf Fensterbretthöhe nah am Himmel und den Baumwipfeln schlafend, mit zwei großen hellen Fenstern, jetzt, heute Abend zu offen ist nach 16 Tagen großer, geweiteter Offenheit im Wahrnehmen. 

Ja. Es braucht Umhüllung. 

Hier im Gästezimmer, klingt in der Nacht die Koshi am geöffneten Fenster bewegt vom Wind und den Regenböen, die den Asphalt im Laternenlicht glänzen lassen.

Mit ihrem sanften Klang schlafe ich dankbar und tief ruhend ein. 

 

7 Uhr erwache ich.

Die Kirchenglocken läuten ganz nah.

Die 6-12-18-Uhr-Kapellenglocken von Haus Tabor finde ich auch hier in Dresden. 

Ja, Glockenklang ist überall. 

Nur etwas zeitversetzt.  

Nach Nächten von 4 Uhr Erwachen ein ungewöhnlich langer Morgen im Bett.

Still ist es.

In mir. 

Und um mich herum.

 

Langsam, ganz langsam erhebe ich mich hinein in den Tag. 

So still ist es.

So langsam bin ich. 

Laufe durch mein mich umarmendes Reich.

Mein Zuhause. 

Endlich endlich endlich mein Zuhause. 

Staune über diesen Ort, der aus mir seit Mai erwachsen ist. 

Fühle mich, als würde ich alles zum ersten Mal sehen. 

 

Alles spricht und erzählt frei von Worten seine leisen Geschichten. 

Alles berührt mich.

Alles ist durchdrungen von Schönheit und leuchtender Stille. 

 

Die Taschen und der Koffer und die Büro-Kiste und Küchen-Körbe der langen Herbstretreatreise stehen noch unberührt im großen Flur-Zimmer.

Die helle Kerze dort flackert vor sich hin. 

Der Stäbchen-Duft von Nepal zieht sanft und unsichtbar durch die Räume. 

Der lange indische Wollläufer unter meinen nackten Füßen wärmt. 

Kühl ist es. 

Herbst ist es nun ganz geworden. 

Endlich.  

 

Meine Wohnung neu entdeckend sehe ich aus dem großen Fenster meines Zimmers der vergangenen Nacht. 

Es regnet. 

Dicke, strömende Regenflüsse rinnen vom Himmel. 

Strömender Regen. 

Wasser das vom Himmel fällt. 

Wasserfall. 

Fallen. 

Liegen. 

Liegenbleiben. 

Liegen und bleiben. 

Ich nehme meine Bettdecke und steige hinauf auf die Fensterbank.

Breit ist sie. Erstaunlich tief und breit.  Als ich zum ersten Mal die Wohnung sah, war ich, neben allem anderen, besonders auch in die Fensterbänke verliebt. Ich liebe es auf Fensterbänken zu sitzen und zu schauen. Zu lesen. Zu naschen. Zu schlafen. Zu beobachten. Zu atmen. 

 

Und nun, hier in meinem neuen Zuhause in Dresden habe ich gleich drei Fensterbänke die einladen zu all dem.

Liegen und in den Himmel schauen. 

Ja. 

Nur liegen und bleiben und schauen.  

Auf Omas handgewebten Li-Kissen, der handgewebten warmen Wolldecke mit den dunkel klingenden Perlen, mit den weichen Fellen unter mir. Den warmen Nepalschals aus Yakwolle. 

Und so liege ich.

Mittendrin im Herbst auf meiner Fensterbank. 

Schaue in den Morgen mit seinen Menschen im Regen. 

Blaue grüne rote Regenjacken. Bunte Regenschirme. Kinder in gelben Gummistiefeln auf dem Weg in den Kindergarten oder in die Schule. 

Das orangene Müllauto. Die Grünanlagenmänner, die die Mülleimer entleeren. 

Fahrradfahrer. Ein Polizeiauto. 

Und soviel Regen. 

Wind. 

Regenwind.

Voller warmer Dankbarkeit schaue ich in der unberührten Wohnungsstille geatmet dem nassen Leben zu.  

Bleiben. Hier. 

Behaglich umhüllt von meiner Bettdecke schlafe ich ein.

Erwache mit dem Blick auf die alten Bürgerhäuser und den einen wohl auf einer Terrasse stehenden Baum, dessen Spitzen, im Wind sich bewegend, hinter einem hohen Dach vorluken. 

Lange lange lange schaue ich dem Spiel des Windes zu. Dem Glanz der nassen Blätter. Ihrer stürmischen Bewegtheit. Und sinke noch tiefer hinein in mich, atme ruhig mit dem spielenden Blätterwind und schlafe ein. 

Träume. 

Wache. 

Liegen. 

Bleiben. 

Schauen. 

Spüren. 

 

Den Regen.

Den Wind, 

Das Sinken. 

Das Ankommen.

Die vielen Menschen wegziehen lassen.

Spüren. 

Irgendwann nur noch ich. 

 

 

Baden. 

 

 

Lange. Ganz warm.

Das Bad dampft.

Das Fenster beschlagen. 

Nichts tun.

Nur ich und das Wasser.

Mich treiben lassen in die geborgene Weite des Warmen. 

Bleibend treiben. 

Ja. 

 

Das Körperchen kraftvoll mit Seide abreiben vom vergehenden Sein der letzten Wochen. Gehäutet. Mal wieder. 

 

Essen.

 

Der Kühlschrank noch leer. Markt ist erst Samstag. 

Also eine Suppe holen bei Frau Lehmann. Gleich neben der Kirche. Täglich fünf Suppen. Kartoffelsuppe gibt es immer. Kartoffelsuppe ist es eigentlich auch immer. „Und? Eine große Portion wie immer?“ fragt die Frau Lehmann, auch wie immer. Doch dieses mal wird es ein Kitcheri. 

Zum Mitnehmen.

Zu viele Menschen bei Frau Lehmann. Zu viele Worte. Zu viele nasse Regenjacken. Menschen im Herbst.  Für mich heute noch zu viel an menschlicher Dichte in einem Raum. 

Das Leben zieht sich zurück nach innen.

Essen. 

Zuhause. 

Am Küchentisch. 

Allein. 

Ohne Menschen.

Reis, Mungdal & Gemüse wärmen meinen Bauch.

 

Und jetzt: Hinaus. 

 

….

Laufen. 

 

An den Fluss.

Endlich. 

Wie ganz oft. 

 

3 Minuten. 

Und ich stehe auf den Elbwiesen. 

Laufe direkt an den Fluss.

Stehen. 

Nur stehen.  

Spüre sein Wasser, sein ruhiges Fliessen. 

IN mir. 

 

Die Schönheit und Berührtheit fluten mich. 

Meine Schritte, der Atem im Einkklang, finden von selbst in Gehmeditation.

Alles leuchtet, klingt, singt, spricht mit mir. 

Ganz leise. 

Frei von Worten.

Jeder Stein. Jede Muschel. Jeder Grashalm. Jedes Blatt. Jeder Tropfen. Das Treibholz. Die Hagebutten. Die faulen Äpfel. Die Kastanien. Die Eicheln. Die Vögel. Der Wind. Alles. 

 

Da ist es also wieder. 

Endlich. 

Hab auf dich gewartet. 

Lange schon. 

Da bist du ja. 

Endlich. 

Mit allem verbunden, an nichts gebunden. 

Frei. 

 

Tränen. 

Tränen. 

Tränen laufen in meine Augen. 

Laufen. 

 

Entlang am Fluss. 

 

Immer wieder begegnen mir Menschen. Mütter mit Flusssteinen spielenden Kindern.

Eine traurige Frau. Ein schüchterner Mann. Dick eingemummelte Menschen. Hunde bellen. Die Vögel ziehen. Die Enten laufen, schwer ihre Körper bewegend, über die Wiesen. Und der Fluss gibt sich hin an sich selbst. Ruhig. Frei von Aufgeregtheit. Nur Fluss. 

Mit allem verbunden, an nichts gebunden. 

Hab auf dich gewartet, lange schon … 

 

Ich sehe die Menschen. 

Sehe in sie hinein. Sehe in sie hindurch. Sehe ihr dazwischen sein. 

Sehe ihr Miteinander. 

Sehe ihre Gefühle, ihre Stimmungen, ihre Schmerzen, ihre Leben. 

Alles spricht mit mir. 

 

Alles. 

spricht. 

mit. 

mir.

Weise leise. 

 

Viele Stunden laufe ich. 

Ohne Ziel.

Einfach laufen.

Die Schritte sich setzen lassen.  

So langsam.

So frei. 

So dankbar. 

 

Viele Stunden bade ich. 

In der Vergänglichkeit der Dinge. 

Der Verwandlung des Lebens.

Bade im Herbst und seiner melancholisch beglückenden Intensität.  

Viele Stunden laufe ich. 

Mit Tränen in den Augen und warmen innig geweitetem Herz durch meine Stadt. 

Mein Zuhause. 

Dresden. 

 

Alle Worte in mir sind still. 

Der Körper singt und sinkt. 

Der Körper sieht.

Alles. 

Er riecht. 

Schmeckt. 

Fühlt. 

Hört. 

Spürt. 

 

Hab auf dich gewartet. 

Lange schon. 

Na da bist du ja … ,   endlich.

Mit allem verbunden, an nichts gebunden. 

Frei. 

Frei in der Dämmerung. 

 

Herbst am Abend. 

 

Im regennassen Laternendunkel liege ich auf der Fensterbank unter dem Himmel. Behütet. 

Stunden mit Nichts.

Betrachte die lichtspendenden Bürgerhäuser mit ihren abendlebenden Setzkasten-Menschen darin. 

 

Lausche den Klängen. 

Lausche der Stimme. 

Lausche den Worten. 

 

Herman van Veen

„Ich weiß … „

 

Irgendwann verlöscht das letzte späte Licht irgendwo hinter dem letzten wachenden Fenster.

Die Neustadt schläft. 

Ich auch. 

Allein

auf einer Fensterbank. 

 

 

Leise knisternd dreht die Platte ihre Runden in der friedlichen Nacht.