Wir oder das kleine Vögelchen und ich

 

 

Ich sitze in meiner Küche auf der Bank am Küchentisch. Im Hintergrund klingen die vormittäglichen Alltagsgeräusche: Das Rauschen der Autos. Stimmen. Schritte auf den Gehwegen. Der Klang der Stadt. Ich arbeite nach einer kurzen Nacht konzentriert am Laptop, als ich einen dumpfen Laut vernehme. Er erreicht mich wahrnehmend, ohne ihn in eine Einordnung zu bringen.

Einige Minuten später gehe ich auf den Balkon, um mich mal kraftvoll an diesem spätsommerlichen Freitagvormittag auszustrecken und sehe dabei nah an der Balkonschwelle etwas Kleines liegen.

Ja. Etwas kleines zartes Flauschiges.

Ein kleines Vögelchen.

 

Tot.

 

Sofort spüre ich ein feines Ziehen in meinem Herz.

Wie zart er aussieht.

Wie klein er ist.

Wie still und friedlich.  

 

Tot.

 

Und hocke mich nieder.

Betrachte ihn mit warmen, unschuldigen Kinderaugen und fein ziehendem Herz.

Nehme ihn nach einem langen Moment des Zögerns ganz behutsam in meine Hand.

So weich.

So unschuldig.

Wie ein zartes, gewichtsloses Nichts liegt er in meiner Hand und verströmt ganz leise eine kaum fassbare, feine Wärme, die nicht mehr atmet.

 

Da ist er also wieder.

*

Ganz nah.

*

Der Tod und eine seiner zurückgelassenen Körperhüllen.

 

 

Meine Hand spürt.

Spürt ihn.

Spürt mich.

Und ganz langsam falle ich in die Stille des nicht mehr Lebens in meiner Hand.

Sitzend am Boden auf meinem Balkon am Freitagvormittag eines warmen Spätsommerseptembers.

Und diese Stille in die ich falle und die sich zugleich durch meine Hand in mich hinein ausbreitet, lässt mich erfahren, dass es keine Trennung gibt zwischen dem kleinen Vögelchen und mir, keine Trennung zwischen seiner Stille und meiner Stille.

Eins.

Und aus der Zeit gefallen.

 

Wach.

 

Irgendwann erhebe ich mich. Beglückt. Beschenkt. Mit einer ganz feinen, ganz leisen, zärtlichen Traurigkeit im Hintergrund.

Müde.

Gehe in mein Frauenzimmer und lege mich mit dem kleinen Vögelchen in der Hand auf das große  Bett.

Schlafe ein.

*

Wache wieder auf.

Spüre. Uns.

Lange.

Stehe auf.

Setze mich auf den Meditationsplatz. Lege das kleine Vögelchen nach einer Weile auf das Bänkchen vor mir.

Schaue.

Ja. 

Eine Begegnung mit dem Tod.

Sechs Wochen nach dem 10tägigen Begleiten des Sterbens meiner Freundin ist er wieder ganz da.

Der Tod.  

 

*

Dieser mein Körper ist von derselben Natur.

So wird er sein.

Er kann seinem Schicksal nicht entgehen.

*

 

 

Ich bin verabredet zum späten gemeinsamen Mittagessen.

Was mach ich mit dem Vögelchen?

 

Es bleibt.

Es muss noch hierbleiben.

Es braucht noch Zeit.

Ich brauche noch Zeit.

Also gehe ich essen.

 

Nachdenklich. Nachspürend. Sinnierend.  

In mich hinein sinnend.

 

Zwei Stunden später bin ich wieder da.

Es zieht mich sofort hin zu ihm.

Da liegt es.

 

Wie zart er aussieht.

Wie klein er ist.

Wie still und friedlich.  

 

Tot.

 

Und wieder sitze ich bei diesem kleinen, feinen, entleerten Körper.

Atmen.

 

*

Dieser mein Körper ist von derselben Natur.

So wird er sein.

Er kann seinem Schicksal nicht entgehen.

*

 

 

Und dann ist plötzlich klar, dass er in die Erde gehört. Unten im kleinen Garten hinter dem Haus. Nah bei den Balkonen.

Ich will ihn also wieder in meine Hand nehmen.

Und zucke erschrocken, fast ein kleines bisschen entsetzt, zurück.

Plötzlich ist er schwer dieser kleine, zarte Vogelkörper. Der, der vor Stunden noch wie eine stilles Nichts in meiner Hand lag, ist nun ein stilles Mehr geworden.  

Ein stilles totes Mehr.

Ein friedliches flauschiges stilles totes Mehr.   

 

****

 

 

Ich bin diesem kleinen Vögelchen sehr dankbar, dass es so nah bei mir gestorben ist. Dass ich es finden durfte. Dass es so lange in meiner Hand lag und mich so tief erfüllte mit der Stille und dem Frieden des tot Seins.

Und wieder durfte ich fühlen, dass wir alle irgendwann, dass ich irgendwann tot sein werde, genauso tot und still und friedlich wie dieser kleine Vogel, der sich gestern während ich in der vormittäglichen Küche am Laptop saß und schrieb, in das große Ganze hinein auflöste.

 

 

. . .  z u   l e b e n   i s t   s o   r e i c h